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Standort und Wirkung

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Alles, was wir tun oder unterlassen, wirkt auf das Schicksal der Sozietät. Selbst das Verborgenste bricht sich, einem unterirdischen Strömen gleich, seinen Weg zum allgemeinen Geschehen; ebenso werden wir in jedem Augenblick von Wirkungen des kleineren oder größeren menschlichen Gemeinwesens erfaßt.

Literatur, sofern sie diesen Namen verdient, stellt den Versuch dar, die Wirklichkeit in der Schrift zur Wahrheit zu verdichten. Dieses Streben betrifft freilieh vor allem die eigene innere Welt, ist der individuelle Versuch, nach den Sternen zu greifen, selbst bewußter zu werden oder auf der Suche nach dem eigenen irrationalen Urgrund den Kopf zu verlieren. Das Ergebnis betrifft allerdings auch die anderen. Die Literatur befindet sich selbst in ihren hermetischesten Erscheinungsformen auf dem Kraftfeld der Politik.

Der Autor, der sich berufen fühlt, sich selbst und der Gesellschaft politische Ziele zu setzen oder sein Werk in den Dienst einer bereits vorhandenen politischen Idee zu stellen, ist ein Typus, dem wir bereits in den tiefsten Schichten der Literatur begegnen können. Schon das Gilgamesch-Epos, entstanden um 2000 v. Chr., bietet die Darstellung sakrosankter, modellhaft und verpflichtend wirkender Herrschaftsstrukturen; die politische Zielrichtung der Komödien des Aristophanes ist genauso bekannt wie das politische Streben Vergils im Geiste der augustäiseben Konsolidierung.

Mit der Erfindung des Buchdrucks erreicht die Wirkung des politischen Autors eine neue Dimension; Vervielfältigung und Vertrieb geben dem Buch durch die Zahl der Leser zusätzliche Sprengkraft, zugleich unterstellen sie das Produkt den Gesetzen des Marktes. f

Der Autor, der sich selbst auf den Markt wirft oder sich von den Verlegern vermarkten läßt, ist auf natürliche Weise ein Mensch des politischen Geschehens. Politik ist die Kunst der Staatsverwaltung; der Staat ist aber auch, auf die Zustände des Marktes begründet. Doch ist das Geflecht der Wechselwirkungen freilich vielfältiger und dichter.

Das Verhältnis zwischen Intention und Wirkung ist mitunter widersprüchlich. Rousseaus Traum von einem Rückzug aus der Zivilisation wurde zum politischen Programm von Gruppen und Kräften, die von Zeit zu Zeit, so auch in der Gegenwart, mit Bomben und Granaten in Erscheinung treten. Finsterer und verborgener ist die Wirkung eines der Begriffe der Nietzscheschen Philosophie auf den Gang der russischen Geschichte. Der Held des Romans „Schuld und Sühne“ von Fjodor M. Dostojewskij verkörpert das Ideal des „Ubermenschen“: Rodion Raskolnikow nimmt im Namen der Moral das Recht in Anspruch, das Böse, das Häßliche, das Minderwertige mit einem blutigen Gewaltakt aus der Welt zu schaffen. Sein Beispiel gab dem Mord jene Verklärung, die in den ethischen, ja religiösen Überlegungen der russischen Anarchisten der Jahrhundertwende weiterstrahlte und manchen Anhängern der Revolutionen des Jahres 1917 das

Gefühl gab, mit der Radikalität des Rodion Raskolnikow das Urteil des hegelianischen Weltgeistes zu vollziehen.

Unmittelbar politisch wirkt der Autor entweder als Agitator oder als eigentlich unpolitischer Literat, der sich fallweise gedrängt fühlt, sich sozusagen als Privatperson zu Fragen der Politik zu äußern. Im Falle von Stendhal, Thomas Mann oder Ezra Pound ist das literarische Werk selbst frei von Elementen der Agitation, doch fehlt es nicht an Stellungnahmen politischer Natur: Stendhal kämpfte mit der Waffe des Wortes für Napoleon, Thomas Mann für die Demokratie, Ezra Pound für den italienischen Faschismus.

Der Autor als politischer Agitator wurde und wird von Vertretern des l'art pour l'art in allen seinen Erscheinungsformen abgelehnt, und in der Tat bringt der Agitator nur selten ein literarisches Meisterwerk zustande. Die Verallgemeinerung hindert uns freilich, manche literarische Phänomene zu begreifen. Es gibt Begabungen in großer Zahl, deren schöpferische Phantasie durch die politische Idee bewegt wird.

Den Standpunkt des l'art pour l'art brachte der ungarische Dichter Milan Füst in dem Aphorismus zum Ausdruck: „Nur die schwachen Charaktere sehen sich gezwungen, sich an einer Fahnenstange festzuhalten.“ Diesem Urteil widersprechen Meisterwerke von Pierre Jean de Beranger und Heinrich Heine, von Jonathan Swift und Georges Orwell, von Konstantin Fadjejew (in seinem Roman „Die Neunzehn“) und Wladimir Majakowskij.

Die politische Lyrik von Bert Brecht zeigt die großen Möglichkeiten ebenso wie die gesellschaftskritische Epik von Alexander Solschenyzin. Mitunter kommt die politische Meinung in Form der verschlüsselten Botschaft zum Ausdruck. Die kristallinisch klare und kühle Prosa der Erzählung „Auf den Marmorklippen“ von Ernst Jünger vermag auf diese Weise die Ablehnung des Nationalsozialismus begreifbar machen.

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