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Statt Dialektik — Integration

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Der französische Staatspräsident Valery Giscard d'Estaing hat anläßlich seines jüngsten Moskau-Besuches, unter Berufung auf die Ergebnisse der Europäischen Sicherheitskonferenz und auf die auch von der Sowjetunion forcierte Entspannungspolitik, die Einstellung der ideologischen Kriegführung gefordert. Breschnjew hat diese Forderung dezidiert zurückgewiesen und die Fortsetzung der ideologischen Kriegführung, ja deren Verstärkung angekündigt.

Der Krieg der Ideen geht also trotz aller Entspannungspolitik weiter. Und da stellt sich die Frage: Welche Chancen hat die Freie Welt in dieser Auseinandersetzung? Was bringt der „Geist von Helsinki“?

Taktisch ist das sozialistische Lager im Vorteil. Die Kommunisten tragen ihre Ideologie über die Medien der öffentlichen Meinungsbildung und die zahlreichen kommunistischen Parteien in nahezu alle Länder der Welt. Gleichzeitig verhindern sie aber das Eindringen ihnen unliebsamer Ideen durch Eiserne Vorhänge, die für den Informationsfluß nach wie vor gewaltige Hindernisse darstellen. Selbst die in den Schlußdokumenten der KSZE konzedierte Liberalisierung des Aus-tauschs von Informationen und Ideen wird durch das Verbot der Einmischung in die inneren Angelegenheiten der vertragschließenden Staaten wieder zurückgenommen.

Diese Taktik läßt sich freilich nicht lückenlos durchführen. Die zunehmende Verbreitung von Transistorradios in den osteuropäischen Ländern macht eine völlige Abschirmung gegen Ideen und Informationen aus der freiheitlichen Welt unmöglich.

Die sowjetische Taktik kann vor allem aber auch insofern unterlaufen werden, als die kommunistischen Parteien in den Ländern der freiheitlichen Welt fortlaufend mit dem Ideengut dieser Welt konfrontiert sind und die Probleme, die daraus für den Kommunismus entstehen, auf die Sowjets weiterwälzen.

Daß sich hieraus für die Kommunisten Schwierigkeiten ergeben müssen, zeigen die Mißklänge auf den vorbereiteten Gesprächen der noch für dieses Jahr geplanten Gipfelkonferenz europäischer kommunistischer Parteien. Dabei haben westeuropäische Kommunisten offene Opposition angemeldet gegen den Versuch, doch noch die ideologische und politische Vorherrschaft der Sowjetunion zu etablieren oder zu festigen.

Die Taktik des Ostblocks erschwert es dem freiheitlichen Lager zwar, in der ideologischen Kriegführung seine eigene Stärke voll zum Einsatz zu bringen, macht dies aber nicht, wie man sieht, ganz unmöglich. Wie steht es nun aber mit den geistigen Waffen der Freien Welt? Sind diese einer Auseinandersetzung mit der kommunistischen Ideologie gewachsen?

Die wissenschaftliche Qualität und der Wahrheitsgehalt des Marxismus-Leninismus sind längst in Frage gestellt und vielfach widerlegt. Freilich bedeutet das zunächst nicht viel.

Denn die Bedeutung einer Ideologie als Faktor politischer Integration und Motor aggressiver Dynamik leidet — wie vielfache Erfahrung lehrt — durch den Umstand nicht, daß der wissenschaftliche oder philosophische Hintergrund in sich widersprüchlich sind.

Nun kommt in unseren Tagen aber ein weiterer dem Marxismus-Leninismus abträglicher Umstand hinzu.

Diese Ideologie enthält nicht nur theoretische Widersprüche, sie hat nun auch begonnen, in der Wirtschaft und in der Gesellschaftsordnung des sozialistischen Lagers selbst Widersprüche und Krisen auszulösen und wird in absehbarer Zeit für dieses Lager auch außenpolitische und weltpolitische Mißerfolge und Krisen verursachen.

Weltpöltik von morgen wird zwangsläufig auf ein vorrangiges Ziel eingeschworen sein: auf die Vereinigung aller Völker und Rassen, aller Kulturen und Wirtschaftssysteme, aller Staaten und Sozialordnungen zu der „,Einen Welt“. Unser Planet ist so klein und die Gefahren für das globale Ökosystem sind so groß geworden, daß das Menschengeschlecht nur überleben kann, wenn die Welt ehebaldigst zu einem kooperierenden globalen System zusammenwächst und weltweite partnerschaftliche Zusammenarbeit organisiert (Mesarovic und Pestel in ihrem Buch „Menschheit am Wendepunkt“, DTV, 1974).

Vor der Aufgabe einer Weltintegration muß der Marxismus aber versagen, weil er eine Lehre ist, die kompromißlos davon ausgeht, daß einzig und allein der Kampf der Gegensätze Bewegung und Fortschritt zu bewirken vermöge. Per Kampf der Gegensätze sei der einzige und ausschließliche Motor der Weltgeschichte. Es liegt nun auf der Hand, daß eine Theorie, die im Kampf der Gegensätze den einzigen Antrieb des Fortschritts sieht, nicht geeignet sein kann, die Integration aller Länder und Völker auf die „Eine Menschheit“ hin zu steuern, also die „Eine Welt“ zu schaffen.

Gewiß hält der Marxismus in vielerlei Formen bedeutende Machtpositionen und erringt immer noch politische Erfolge. Aber als geistige Gestaltungskraft ist er vom Gang der Geschichte selbst entthront worden. Seine Mission ist abgelaufen. Er hat keine Zukunft mehr.

Die Ideologie des Kommunismus, deren theoretische Widersprüchlich-keit schon lange erwiesen ist, wird nun also zur Ursache von Widersprüchen und Krisen in jenen politischen Systemen, die sich auf sie stützen. Und das wird ihren Untergang herbeiführen.

Was nach dem Kommunismus kommt, ist in Konturen schon sichtbar. Es ist die Aufhebung des dialektischen Denkens durch ein integrati-ves Denken, eine Denkform, die vom Satz ausgeht, das Ganze sei mehr als die Summe seiner Teile, und das die Einheit des Mannigfaltigen zu begründen vermag, ohne dadurch die Teile im Ganzen untergehen zu lassen. Damit ist es aber ein Denken, das das Entstehen einer weltweiten partnerschaftlichen Zusammenarbeit vom philosophischen Ansatz her begründet und so die Eine Welt, die zur Bedingung unseres Überlebens geworden ist, erst möglich macht.

In dem ideologischen Krieg, den Breschnjew der Freien Welt neuerlich und mit geradezu zynischer Offenheit erklärt hat, sind die Siegeschancen also auf unserer Seite! Wir müssen sie nur erkennen, und auch lernen, sie auszunützen. Breschnjew soll noch bereuen daß er uns diesen Krieg erklärt hat!

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