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Statt Geschichten: Wirklichkeit

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Seit einiger Zeit hat die Literatur, die zur Zeit geschrieben wird, mit mir nichts mehr zu tun. Das liegt wohl daran, daß sie mir nur Bekanntes vermittelt, bekannte Gedanken, bekannte Gefühle, bekannte Methoden, das heißt: bekannte Gedanken und Gefühle, weil die Methoden bekannt sind. Ich kann in der Literatur keine Geschichte mehr vertragen, mag sie noch so farbig und phantasievoll sein, ja jede Geschichte erscheint mir um so unerträglicher, je phantasievoller sie ist. Geschichten höre ich am liebsten gesprochen, erzählt, in der Straßenbahn, in einer Gaststätte, meinetwegen am Kamin. Ich kann aber auch keine Geschichten mehr ertragen, in denen scheinbar nichts geschieht: die Geschichte besteht dann eben darin, daß nichts oder fast nichts geschieht, die Fiktion der Geschichte aber ist immer noch da, unreflektiert, unüberprüft. Dieses Nicht-ver-tragen-Können einer Geschichte ist sicherlich etwas Emotionales, ich bin der Geschichte, der Phantasie, einfach überdrüssig geworden.

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Seit einiger Zeit hat die Literatur, die zur Zeit geschrieben wird, mit mir nichts mehr zu tun. Das liegt wohl daran, daß sie mir nur Bekanntes vermittelt, bekannte Gedanken, bekannte Gefühle, bekannte Methoden, das heißt: bekannte Gedanken und Gefühle, weil die Methoden bekannt sind. Ich kann in der Literatur keine Geschichte mehr vertragen, mag sie noch so farbig und phantasievoll sein, ja jede Geschichte erscheint mir um so unerträglicher, je phantasievoller sie ist. Geschichten höre ich am liebsten gesprochen, erzählt, in der Straßenbahn, in einer Gaststätte, meinetwegen am Kamin. Ich kann aber auch keine Geschichten mehr ertragen, in denen scheinbar nichts geschieht: die Geschichte besteht dann eben darin, daß nichts oder fast nichts geschieht, die Fiktion der Geschichte aber ist immer noch da, unreflektiert, unüberprüft. Dieses Nicht-ver-tragen-Können einer Geschichte ist sicherlich etwas Emotionales, ich bin der Geschichte, der Phantasie, einfach überdrüssig geworden.

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Aber ich habe auch bemerkt, daß es mir in der Literatur eben nicht um die Erfindung und nicht um die Phantasie geht. Die Phantasie scheint mir etwas Beliebiges, Unüberprüfbares, Privates zu sein. Sie lenkt ab, sie unterhält im besten Fall, ja weil sie nur unterhält, unterhält sie mich nicht einmal mehr. Jede Geschichte lenkt mich von meiner wirklichen Geschichte ab, sie läßt mich durch die Fiktion mich selber vergessen, Sie läßt mich meine Situation vergessen, sie macht mich weltvergessen. Wenn aber durch eine Geschichte eine Neuigkeit gesagt werden soll, dann scheint mir eben die Methode, dazu eine Geschichte zu erfinden, unbrauchbar geworden zu sein. Die Methode hat sich überlebt. Die Fiktion, die Erfindung eines Geschehens als Vehikel zu meiner Information über die Welt ist nicht mehr nötig, sie hindert nur. Uberhaupt scheint mir der Fortschritt der Literatur in einem allmählichen Entfernen von unnötigen Fiktionen zu bestehen. Immer mehr Vehikel fallen weg, die Geschichte wird unnötig, das Erfinden wird unnötig, es geht mehr um die Mitteilung von Erfahrungen, sprachlichen und nicht sprachlichen, und dazu ist es nicht mehr nötig, eine Geschichte zu erfinden. Mag sein, daß die Literatur so auf den ersten Blick ihre Unterhaltsamkeit einbüßt, weil keine Geschichte mehr die Eselsbrücke zum Leser schlägt: aber ich gehe dabei von mir selber aus, der ich als Leser mich weigere, diese Eselsbrücken überhaupt noch zu betreten. Ich möchte gar nicht erst in die Geschichte „hineinkommen“ müssen, ich brauche keine Verkleidung der Sätze mehr, es kommt mir auf jeden einzelnen Satz an.

So scheint mir die Methode des Realismus, wie sie im Augenblick noch immer im Schwang ist, verbraucht zu sein. Eine normative Auffassung von den „Aufgaben“ der Literatur verlangt außerdem in recht unbestimmten, unklaren Formeln, daß die Literatur die „Wirklichkeit“ zeigen solle, wobei diese Auffassung jedoch als Wirklichkeit die konkrete gesellschaftliche Wirklichkeit jetzt, an diesem Ort, in diesem Staat meint. Sie verlangt: wahrhaftig: verlangt eine Darstellung dieser politischen Wirklichkeit, sie verlangt, daß „Dinge beim Namen genannt werden“. Sie verlangt dazu eine Geschichte mit handelnden oder nicht handelnden Personen, deren soziale Bedingungen möglichst vollständig aufgezählt werden. Sie verlangt konkrete gesellschaftliche Daten, um dem Autor Bewältigung der Wirklichkeit attestieren zu können.

Dieser Auffassung von der Wirklichkeit geht es um eine sehr einfache, aufzählbare, datierbare, pauschale Wirklichkeit. Sie hält es mit der Genauigkeit der Daten, die die Dinge stumpf beim Namen nennen, aber nicht mit der Genauigkeit der subjektiven Reflexe und Reflexionen auf diese Daten. Sie übersieht den Zwiespalt zwischen der subjektiv, willkürlich erfundenen Geschichte, die sie von der Literatur immer noch erwartet, und der dieser erfundenen Geschichte notwendig angepaßten, damit schon verzerrt gezeigten gesellschaftlichen Wirklichkeit. Sie übersieht, daß es in der Literatur nicht darum gehen kann, politisch bedeutungsgeladene Dinge beim Na-

men zu nennen, sondern vielmehr von ihnen zu abstrahieren. Die Wörter Hitler, Auschwitz, Lübke, Berlin, Johnson, Napalmbomben sind mir schon zu bedeutungsgeladen, zu politisch, als daß ich sie als Wörter, literarisch noch unbefangen gebrauchen könnte. Wenn ich diese Wörter in einem literarischen Text lese, gleich in welchem Zusammenhang, bleiben sie für mich unwirksam, sind für mich ärgerlich literarisch geworden, lassen mich weder zum Denken kommen noch assoziieren. Jedenfalls erscheinen mir gesellschaftliche oder politische Dinge in der Literatur, naiv beim Namen genannt, als Stilbruch, es sei denn, man nimmt die Namen nicht als Bezeichnungen dieser Dinge, sondern als Dinge für sich und zerstört dabei die festgesetzten Bedeutungen dieser Wörter.

Es interessiert mich als Autor übrigens gar nicht, die Wirklichkeit zu zeigen oder zu bewältigen, son-

dem es geht mir darum, meine Wirklichkeit zu zeigen (wenn auch nicht zu bewältigen). Das Erforschen und Bewältigen der Wirklichkeit (ich weiß gar nicht, was das ist) überlasse ich den Wissenschaften, die allerdings mir mit ihren Daten und Methoden (soziologischen, medizinischen, psychologischen, juristischen) wieder Material für meine Wirklichkeit liefern können. Ich halte nichts von den Floskeln, die etwa sagen, daß ein Gedicht mehr über die Wirklichkeit (oder was weiß ich) aussage als „so mancher dickleibige wissenschaftliche Wälzer“. Aus dem Kaspar-Hauser-Gedicht von Georg Trakl habe ich für mich nichts erfahren,

aus dem Bericht des Juristen Anselm von Feuerbach sehr viel, auch für meine Wirklichkeit, und nicht nur objektive Daten. Was die Wirklichkeit betrifft, in der ich lebe, so möchte ich ihre Dinge nicht beim Namen nennen, ich möchte sie nur nicht undenkbar sein lassen. Ich möchte sie erkennbar werden lassen in der Methode, die ich anwende. Deshalb auch mag ich keine Fiktion, keine Geschichte (auch keine durcheinandergebrachte) mehr, weil die Methode der Geschichte, der Phantasie, für mich etwas Behagliches, etwas Geordnetes, etwas unangebracht Idyllisches hat. Die Methode der Geschichte ist für mich nur noch anwendbar als reflektierte Verneinung ihrer selbst: eine Geschichte zur Verhöhnung der Geschichte.

Eine normative Literaturauffassung freilich bezeichnet mit einem schönen Ausdruck jene, die sich weigern, noch Geschichten zu erzählen, die nach neuen Methoden der Weltdarstellung suchen und diese an der Welt ausprobieren, als „Bewohner des Elfenbeinturmes“, als „Formalisten“, als „Ästheten“'. So will ich mich gern als Bewohner des Elfenbeinturmes bezeichnen lassen, weil ich meine, daß ich nach Methoden, nach Modellen für eine Literatur suche, die schon morgen (oder übermorgen) als realistisch bezeichnet werden wird, und zwar dann, wenn auch diese Methoden schon nicht mehr anwendbar sein werden, weil sie dann eine Manie sind, die nur scheinbar natürlich ist, wie jetzt die Fiktion als Mittel der Wirklichkeitsdarstellung in der Literatur noch immer scheinbar natürlich ist. (Es ist nebenbei zu bemerken, daß die Filmkritik hierzulande schon viel weiter fortgeschritten ist als die literarische Kritik.)

Schon wieder bin ich sehr abstrakt gewesen, habe es versäumt, die Methoden zu nennen, mit denen ich arbeite (ich kann nur von meinen Methoden reden). Zuallererst geht es mir um die Methode. Ich habe keine Themen, über die ich schreiben möchte, ich habe nur ein Thema: über mich selbst klar, klarer zu werden, mich kennenzulernen oder nicht kennenzulernen, zu lernen, was ich falsch mache, was ich falsch denke, was ich unbedacht denke, was ich unbedacht spreche, was ich automatisch spreche, was auch andere unbedacht tun, denken, sprechen: aufmerksam zu werden und aufmerksam zu machen: sensibler, empfindlicher, genauer zu machen und zu werden, damit ich und andere auch genauer und sensibler existieren können, damit ich mich mit anderen besser verständigen und mit ihnen besser umgehen kann. Ein engagierter Autor kann ich nicht sein, weil ich keine politische Alternative weiß zu dem, was ist, hier und woanders (höchstens eine anarchistische). Ich weiß nicht, was sein soll. Ich kenne nur konkrete Einzelheiten, die ich anders wünsche, ich kann nichts ganz anderes, Abstraktes, nennen. Im übrigen interessiert es mich als Autor auch nicht so sehr.

Methoden also. Ich hätte zum Beispiel nie gedacht, daß ich jemals Stücke schreiben würde. Das Theater, wie es war, war für mich ein Relikt aus einer vergessenen Zeit. Auch Beckett und Brecht hatten nichts mit mir zu schaffen. Die Geschichten auf der Bühne gingen mich nichts an, sie waren, statt einfach zu sein, immer nur Vereinfachungen. Die Möglichkeiten der Wirklichkeit waren durch die Unmöglichkeiten der Bühne beschränkt, das Theater täuschte über die Wirklichkeit hinweg. Statt einer neuen Methode merkte ich Dramaturgie. Der fatale Bedeutungsraum (die Bühne bedeutet Welt) blieb unreflektiert und führt für mich zu lächerlich eindeutigen Symbolismen wie etwa die des Beckettschen Pantomimen, der auf die Bühne geworfen wird. Das war für mich keine Neuigkeit, sondern ein Hereinfallen auf die alte Bedeutung der Bühne. Die Brechtsche Desillusionierung, die zum Desillusionieren immer Illusionen nötig hatte, erschien mir ebenso als fauler Zauber, wieder wurde Wirklichkeit vorgetäuscht, wo Fiktion war. Die Methode meiner ersten Stücke ist deswegen eine Beschränkung der theatralischen Handlungen auf Wörter gewesen, deren widersprüchliche Bedeutung eine Handlung und eine individuelle Geschichte verhinderten. Die Methode bestand darin, daß kein Bild mehr von der Wirklichkeit gegeben wurde, daß nicht mehr die Wirklichkeit gespielt und vorgespielt wurde, sondern daß mit Wörtern und Sätzen der Wirklichkeit gespielt wurde. Die Methode meines ersten Stücks bestand darin, daß alle Methoden bisher verneint wurden. Die Methode des nächsten Stücks wird darin bestehen, daß die bisherigen Methoden durchrefiektiert und für das Theater ausgenützt werden. Die Schablone, daß die Bühne Welt bedeutet, wird zu einem neuen „Welttheater“-Stück ausgenützt werden. Immerhin habe ich bemerkt, daß die Möglichkeiten auf dem Theater nicht beschränkt sind, sondern daß es immer noch eine Möglichkeit mehr gibt, als ich mir gerade gedacht habe.

Auch einen Roman ohne Fiktion zu schreiben, habe Ich mir früher weder denken können noch träumen lassen. So starre Normen habe ich heute nicht mehr. Für den Roman, an dem ich jetzt gearbeitet habe, übernahm ich als Vehikel einfach das Schema einer Fiktion. Ich habe keine Geschichte gefunden. Ich fand einen äußeren Handlungsablauf, der schon fertig war, das Handlungsschema des Kriminalromans, mit seinen Darstellungsklischees des Mordens, des Sterbens, des Schreckens, der Angst, der Verfolgung, der Folterung. In diesen Schemata erkannte ich, als ich über sie nachdachte, Verhaltensweisen, Existenzformen, Erlebnisgewohnheiten von mir selber wieder. Ich erkannte, daß diese Automatismen der Darstellung einmal aus der Wirklichkeit entstanden waren, daß sie einmal eine realistische Methode gewesen waren. Würde ich also nur mir diese Schemata des Sterbens, des Schreckens, des Schmerzes usw. bewußt machen, so könnte ich mit Hilfe der reflektierten Schemata den wirklichen Schrecken, den wirklichen Schmerz zeigen. Dieser Vorgang erschien mir wie die Kreisbewegung über das Bewußtwerden zurück zum Ausgangspunkt in Kleists Aufsatz über das Marionettentheater. So wählte ich die Methode, auf unbewußte literarische Schemata aufmerksam zu machen, damit die Schemata wieder unliterarisch und bewußt würden. Es ging mir nicht darum, Klischees zu „entlarven“ (die bemerkt jeder halbwegs sensible Mensch), sondern mit Hilfe der Klischees von der Wirklichkeit zu neuen Ergebnissen über die (meine) Wirklichkeit zu kommen: eine schon automatisch reproduzierbare Methode wieder produktiv zu machen. Bei der nächsten Arbeit freilich wird eine andere Methode nötig sein.

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