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Statt Logik - Gefühl, statt Wahrheit — Phantasie

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Lange Zeit verschüttet, entdeckt Europa heute wieder die Welt der Araber, die Welt Mohammeds, öl und Krieg haben dem arabischen Raum eine Schlüsselstellung in der Weltpolitik verschafft. Männer wie König Feisal und Präsident Gaddafi, die arabischen Politiker auf der letzten Tagung in Algier unter Vorsitz des algerischen Präsidenten Boumedienne — sie alle bleiben in ihrem Ethos und ihrer Religionsideologie so lange dem Europäer unerklärbar, solange er Geist und Denken des Islam nicht kennt.

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Lange Zeit verschüttet, entdeckt Europa heute wieder die Welt der Araber, die Welt Mohammeds, öl und Krieg haben dem arabischen Raum eine Schlüsselstellung in der Weltpolitik verschafft. Männer wie König Feisal und Präsident Gaddafi, die arabischen Politiker auf der letzten Tagung in Algier unter Vorsitz des algerischen Präsidenten Boumedienne — sie alle bleiben in ihrem Ethos und ihrer Religionsideologie so lange dem Europäer unerklärbar, solange er Geist und Denken des Islam nicht kennt.

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Der unverminderte Einfluß des Islams und die beharrliche Existenz des Schleiers sind Erscheinungen, die jedem Besucher Nordafrikas auffallen. Seit der Kolonialzeit hat sich in dieser Beziehung nichts geändert, es sei denn, daß man heute eher weniger unverschleierte Frauen sieht als früher, weil weniger Europäerinnen dort leben. Die einheimischen Frauen und Mädchen begeben sich — bis auf wenige Ausnahmen — dicht verhüllt auf die Straße.

Nach europäischen Gesichtspunkten müßte man daraus schließen, daß es auch den Regierungen der nun freien Staaten des arabischen Westens nicht gelungen sei, die „Unterdrückung“ der Frau zu beseitigen und ihr Dasein nach den Prinzipien des zwanzigsten Jahrhunderts zu ermöglichen. Nun ist das zwanzigste Jahrhundert nicht spurlos an der mohammedanischen Frau vorübergegangen. Sie besucht heute moderne Kaufhäuser wie die Europäerin, benützt dieselben technischen Geräte, kleidet sich sogar vielfach nach europäischem Vorbild — aber darüber trägt sie den weiten, weißen Umhang und den Schleier. Sie will den Schleier nicht ablegen. Er schützt sie vor den Blicken der, Passanten und erlaubt es ihr, aus sicherer Anonymität heraus die Umwelt zu beobachten. Im wesentlichen denkt die Orientalin nicht daran, sich die europäische Schwester zum Vorbild zu nehmen, sondern betrachtet sich als ihr überlegen. Sie fühlt sich als Rechtgläubige und würde es als unschickliches Ansinnen empfinden, erwartete man von ihr, es den Ungläubigen gleichzutun.

Dennoch ist über die Welt des Islams eine Flut fremder Errungenschaften und Ideen hereingebrochen und hat den Lebensstil beeinflußt. Im Grunde betrifft das übernommene Gut jedoch nur Äußerlichkeiten. Der gebildete Orientale muß sich mit Begriffen wie Humanität, Arbeitsethos, Hygiene, soziale Wohlfahrt, Demokratie und mit den technischen Wissenschaften auseinandersetzen, er studiert an europäischen Universitäten, scheitert aber am Geheimnis des Westens, dem exakten, kritischen Denken, genauso wie der Abendländer an der Mentalität des Mohammedaners. Allein die Höflichkeit des Orientalen wie auch des Asiaten führt zu Mißverständnissen. Der gut erzogene Moslem wird seinem Gesprächspartner nie mit „nein“ antworten. Der Europäer hält dies für erfreuliche Aufgeschlossenheit seinen Argumenten gegenüber und fühlt sich betrogen, wenn die Wirklichkeit nicht den . gehegten Erwartungen entspricht.

Besonders verhängnisvoll ist die Beurteilung der politischen Situation orientalischer Staaten nach westlichen Maßstäben. Äußerungen orientalischer Politiker werden oft völlig falsch verstanden. Abgesehen davon, daß sich der Orientale unter vielen Begriffen etwas anderes vorstellt als der Europäer, wählt er zum Beispiel bei Ansprachen an Vertreter seiner Rasse Formulierungen, die bei wörtlicher Übernahme in die Weltpresse ein irreführendes Bild vermitteln. Genauso unzutreffend ist es, sich etwa unter den jungen Staaten des Maghrebs — Tunesien, Algerien — Demokratien nach modernem Muster vorzustellen. Auch die beste europäische Ausbildung vermag es nicht, aus einem Afrikaner einen Europäer zu machen.

Ein ausgeprägtes Merkmal des Arabers ist seine Neigung, logisches Denken durch Gefühl und Phantasie zu ersetzen. Dazu kommt das in jedem Orientalen schlummernde Gesetz der kompromißlosen Gegenüberstellung von Stärke und Schwäche, das Jahrtausende älter ist als der Islam. Die gesamte Geschichte Nordafrikas bis auf den heutigen Tag stand unter dieser Gesetzlichkeit: Unterwerfen oder Beherrschen — mit allen Konsequenzen. Der Orientale liebt die Starken und haßt die Schwachen. Grausamkeit billigt er dem Starken ohne weiteres zu. Wenn dieser eine eindrucksvolle Persönlichkeit besitzt, wird er-ihn verehren. So scheint auch die latente Verehrung Hitlers in der arabischen Welt weniger einem Haß gegen die Juden als diesem Gesetz zu entspringen. Genauso ausgebildet ist das Gefühl des Orientalen für die Schwäche des Gegners oder Partners. Auch dafür hat die Geschichte, sogar die aller-jüngste, bezeichnende Beispiele. Fünfhundert Jahre herrschten die Römer in Nordafrika. Sie bauten Städte, vor deren Ruinen noch die Leistungen der Kolonialherren neuerer Zeit nahezu lächerlich wirken. Die römische Herrschaft schien für ewige Zeiten gesichert. Die Überlegenheit der Römer wurde allseits anerkannt, die Einwohner Nordafrikas waren in das Reich eingegliedert, ja die Berber opferten besonders eifrig vor den Statuen der römischen Kaiser. Und doch, beim ersten Anzeichen von Schwäche fielen die Berberstämme über die Römer her, und nach 1700 Jahren standen sich auf den Ruinenfeldern von Timgad an den Abhängen des Auresgebirges französische Soldaten und algerische Rebellen gegenüber. Auch diesmal ging das Kolonialreich eines romanischen Volkes in Trümmer.

Liebe und Haß liegen eng nebeneinander. Lange bevor Mohammeds Anhänger ihren Glauben mit Feuer und Schwert in Nordafrika verbreiteten, verkündete der Berber- Augustinus mit glühendem Eifer die Lehre Christi in Rom. Während das Christentum in eine fremde Welt getragen wurde, blieb der Islam in seinem ursprünglichen Bereich und stieß dort nie auf Verständnisschwierigkeiten. Dem Muselmanen fällt es nicht schwer, Allah als den Herrn der Welten anzuerkennen und sich bedingungslos seinem Willen unterzuordnen, so wie er auch dem irdischen Herrscher dient und ihn liebt, wenn er stark ist.

Ein System der Gleichberechtigung und daher auch das Wesen der Demokratie sind dem Orientalen absolut unverständlich. Aber auch der Kommunismus nach europäischem Muster oder eine andere atheistische Diktatur sind deshalb undenkbar. Die souveränen Staaten Nordafrikas besitzen einen eigenen, der Mentalität des Moslem entsprechenden Charakter.

Auch die Errungenschaften der Technik finden in der Welt des Islams lange nicht diese Bewunderung, die sich ihre westlichen Schöpfer erwarten. Zwar wird die Nützlichkeit vieler technischer Erzeugnisse eingesehen, sie werden entgegengenommen und verwendet, aber kaum jemand macht sich darüber Gedanken. Was den Europäer mit Stolz erfüllt — seit dem Überhandnehmen der negativen Auswirkungen auch mit Schrecken —, läßt den Mohammedaner unberührt. Schon Napoleon erlag auf seinem ägyptischen Feldzug in dieser Hinsicht einem Irrtum. Als er ein Fluggerät aufsteigen ließ, um den Eingeborenen zu imponieren, sahen die Ägypter nur eine wirkungslose Beleidigung Gottes darin. Aber die Eigenschaft, seinem Partner nur das zu sagen, was er gerne hört, führte jahrzehntelang zu permanenten Täuschungen in der Begegnung Europas mit dem Orient. So sind auch alle Bekenntnisse arabischer Politiker zu europäischen Maximen mit äußerster Vorsicht aufzunehmen. Sie sind vielmehr als Versuche zu werten, nichtorientalischen Staaten materielle Zugeständnisse zu entlocken. Die Weltanschauung von Spenderstaaten ist den Orientalen ziemlich gleichgültig. Sie halten vom Kommunismus so wenig wie vom Kapitalismus. Nach Ansicht bedeutender geistiger Persönlichkeiten des islamischen Raumes seien alle von Europa ausgegangenen Ideologien von denselben materialistischen Tendenzen geprägt.

„Was hast du heute zu tun?“ fragte ich einen arabischen Freund. Er sah mich zuerst verständnislos an; und als ich die Frage wiederholte, sagte er: „Ich gehe mit dir.“ Im

Orient gibt es keine unaufschiebbaren Arbeiten. Begriffe wie Fleiß, Erfolg, Pflichterfüllung haben unter der heißen Sonne keinen ethischen Glanz, gelten vielmehr als Ausdruck gottlosen Besitzstrebens. Der Moslem ist Herr über die Zeit. Auch in der Frage des Öls, das ihm über Nacht zu einer weltpolitischen Schlüsselstellung verholten hat.

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