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Steht etwas über dem Wort Gottes?

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Im Zuge der jüngsten Auseinandersetzung um den St. Pöltner Diözesanbischof wurde auch die Frage nach dem Stellenwert der Bibel aufgeworfen. Grund genug, um sich anhand der Konzilstexte mit dem Verhältnis von Bibel und kirchlichem Lehramt auseinanderzusetzen.

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Im Zuge der jüngsten Auseinandersetzung um den St. Pöltner Diözesanbischof wurde auch die Frage nach dem Stellenwert der Bibel aufgeworfen. Grund genug, um sich anhand der Konzilstexte mit dem Verhältnis von Bibel und kirchlichem Lehramt auseinanderzusetzen.

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„Das Lehramt ist nicht über dem Wort Gottes, sondern dient ihm,...” Diese klare Aussage findet sich in Kapitel 10 der Offenbarungskonstitution „Dei Verbum” (=DV). Unter dem Wort Gottes werden dort Bibel und kirchliche Tradition verstanden. Unbeantwortet bleibt dadurch die Frage, ob die Heilige Schrift ihrerseits über dem Lehramt steht oder nicht. Die Antwort darauf hängt davon ab, was man konkret darunter versteht, wenn man behauptet, daß die Bibel dem Lehramt übergeordnet sei.

„Jede kirchliche Verkündigung muß sich von der Heiligen Schrift nähren und sich an ihr orientieren” (DV Art. 21), so ist weiters im Konzilstext zu lesen. Da die Bibel Grundlage unseres Glaubens ist, hat sie einen einmaligen Stellenwert innerhalb der kirchlichen Tradition. Sie ist in ihren beiden Teilen (Altes und Neues Testament) ältestes authentisches Schriftgut, das von der Liebe und Nähe Gottes zu uns Menschen spricht. Deshalb läge es nicht im Ermessen des Lehramtes, diese Texte nun für unseren Glauben als nicht mehr verbindlich zu erklären oder wesentliche Aussagen außer Kraft zu setzen. So gesehen hat die Bibel den Vorrang.

Problematisch wäre es allerdings, würde jemand die Überordnung der Bibel so verstehen, als ginge es beim kirchlichen Verkünden nur mehr darum, die Aussagen der Schrift unkommentiert weiterzugeben. Denn die Bibel spricht infolge der zeitlichen

Distanz zur Gegenwart nicht mehr in allem unsere Sprache. Deshalb haben die Konzilsväter erklärt: „Die Aufgabe..., das geschriebene oder überlieferte Wort Gottes verbindlich zu erklären, ist nur dem lebendigen Lehramt der Kirche anvertraut.” (DV 10) Diese Auslegung des biblischen Gotteswortes darf allerdings nicht willkürlich sein, sondern hat sich an bestimmte Regeln zu halten, die ebenfalls in der Offenbarungskonstitution festgehalten sind.

Bibel bedarf der Erklärung

Beispielhaft seien einige dieser Regeln genannt: Vorrang bei der Textinterpretation hat die Aussageabsicht des Verfassers der jeweiligen Schrift; die Bibel enthält nicht nur historische Berichte, sondern auch Texte prophetischeroder dichterischer Art, sowie andere Literaturgattungen, deren Eigenart beachtet werden muß; femer ist die konkrete Situation zu berücksichtigen, in der ein Werk verfaßt wurde; jede Aussage muß im Zusammenhang der ganzen Bibel und der kirchlichen Tradition betrachtet werden (vergleiche DV Art. 12).

Hier sei allerdings aus der Sicht der Exegese angemerkt, daß diese Leitlinien zwar immer wieder (auch in jüngsten päpstlichen Erklärungen) zitiert werden, die Ergebnisse aus der Anwendung dieser Grundsätze allerdings zu wenig Beachtung finden (vergleiche etwa die „biblische” Begründung der Nichtzulassung der Frauen zum Priesteramt, die von Wolfgang Beilner in FURCHE 25/ 1993 und von mir in 44/1988 hinterfragt wurde). - Zu fragen ist weiters, ob diese Auslegungsprinzipien nicht nur für die Bibel, sondern auch für die gesamte kirchliche Tradition gelten sollten.

Die Notwendigkeit einer Interpretation der Bibel ergibt sich auch daraus, daß in ihr zeitlos Gültiges neben Situationsbedingtem steht. Auch dazu bedarf es einer Instanz, die - geführt durch den Heiligen Geist - Unterscheidungen trifft.

Als zeitlos gültig haben wichtige Aussagen wie die Nähe und die Personalität Gottes, die einmalige Offenbarung in Jesus Christus als seinem Sohn, die Botschaft von Auferstehung und Liebe und vieles mehr zu gelten. Zeitbedingt sind nicht nur manche Denkmuster (wenn etwa Krankheiten wie Dämonen behandelt werden), zeitbedingt ist auch das Weltbild der biblischen Autoren (die Erde als Scheibe, über der sich der Himmel wölbt); weiters zahlreiche konkrete Anweisungen, die nur für die jeweilige Situation notwendig waren.

Demzufolge hat schon in der Bibel selbst ein Ablösungsprozeß von jüdischen Normen stattgefunden, um auch NichtJuden den Zugang zum Evangelium zu erleichtem. Die Kirche hatte wiederum die Freiheit, etwa konkrete Weisungen des Paulus und seiner Schüler nicht mehr zu übernehmen: Frauen müssen den Kopf beim Gebet nicht mehr überall bedecken (gegen 1 Kor 11,1 -16); sie dürfen beim Gottesdienst reden (anders 1 Kor 14,34; 1 Tim 2,1 lf); auch einen eigenen Witwenstand gibt es in unseren Gemeinden nicht mehr (anders 1 Tim 5).

Da sich die kirchliche Verkündigung - wie bereits festgestellt - immer an den Heiligen Schriften orientieren muß, kommt der Bibel auch eine kritische Funktion zu. Die Kirche als Ganze muß sich stets fragen, ob nicht wesentliche Aspekte biblischer Verkündigung in ihrer Lehre und in ihrer Praxis zu kurz kommen.

Die Bibel als Korrektiv

Die Kirche muß sich heute etwa fragen lassen: Können die einzelnen Gläubigen ihre von Gott geschenkten Gaben entsprechend den Ausführungen des Paulus (1 Kor 12 und 14) wirklich entfalten oder sind sie nicht zu sehr von der Gnade des ihnen vorgesetzten Amtsträgers abhängig? Sind unsere Amtsträger-wie in biblischen Zeiten - hinterfragbar, haben Gläubige auch rechtlich verbriefte Möglichkeiten, wirksam gegen die Amtsführung Einspruch zu erheben oder haben Kritiker nur Nachteile zu erwarten? (vergleiche dazu Apg 11, wo sogar Petrus sich rechtfertigen mußte und 1 Tim 5,17-22, wo es auch ein Klageverfahren gegen Presbyter gibt).

Nicht nur kirchliche Strukturen sind zu hinterfragen. Die Bibel stellt die Weltkirche etwa auch vor die eindringliche Frage, ob sie sich - wie Jesus - eindeutig auf die Seite der Schwächeren, der Ausgebeuteten, der Notleidenden stellt.

Wie sieht dies in den einzelnen Ländern aus, angefangen von der Flüchtlingsproblematik Europas bis zu den ausgebeuteten Landarbeitern Lateinamerikas?

Die Fragen wären noch durch viele andere zu ergänzen. Besondere Brisanz erhalten sie jedoch dadurch, daß es dabei nicht nur um Appelle von Menschen geht, sondern uns die Fragen durch die Bibel als Wort Gottes gestellt werden.

Der Autor ist Diözesanvertreter des Österreichischen Katholischen Bibelwerkes und Pfarrer in Wien.

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