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Sterbehilfe oder Flucht vor Mühen?

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Das niederländische Parlament hat die Tötung unheilbar Kranker auf Verlangen freigegeben. Vor laufender Kamera gestand ein Arzt, 15 mal mit einer tödlichen Spritze diese „Hilfe” geleistet zu haben. Er habe nicht getötet, sondern nur zu einem friedlichen Sterben verholfen.

Was sich in schlaflosen Nächten in unheilbar Kranken bei unerträglichen Schmerzen tut, läßt sich kaum nachempfinden. Auch nicht, was in denen vorgeht, die solche Leiden mitansehen müssen und nicht schmerzlindernd helfen können. . Die Diskussion um die Euthanasie scheint zwei Probleme unserer Zeit offenzulegen: Leiden paßt nicht zum Lebensgefühl des modernen Menschen. Er ist gewohnt, sonst fast alles auf Bestellung, nach Planung, gegen Bezahlung, notfalls mit Protektion haben zu können. Schwierigkeiten weicht er tunlichst aus. Kommen sie, wechselt er, wenn's geht, den Job und schon bei geringen Differenzen auch den Ehepartner. Die glatte Lösung zieht er den Mühen einer Versöhnung oder des gegenseitigen Ertragens vor.

Flucht vor den Mühen? Flucht vor dem Leid, auch angesichts des Todes? Die große Versuchung des Wohlstandsmenschen. In den Hungerzonen Afrikas und in den Slums von Bombay diskutiert man nicht über Sterbehilfe. Dort will man leben. Will dies nicht übrigens auch jener im noblen Krankenhaus, den gerade im letzten Augenblick oft noch ein starker Lebenswille überkommt? Ein Kabarettist, der auf offener Bühne sich zum Kampf gegen den Krebs bekennt, tut mehr für das „Humane”, als jener Arzt mit Todesspritze und jene Parlamentarier, die Leidende aus „Mitleid” dem Tode preisgeben. Der moderne Mensch kann nicht mehr mit-leiden. Er tut es höchstens, solange er gönnerhaft dem anderen Hilfe (ehrlich oder verlogen) versprechen kann. Er flieht, wenn er sich mit der Hilflosigkeit und der Ohnmacht des Kranken solidarisieren muß. Das geht gegen seinen Stolz, auch gegen die Bereitschaft, Leiden mitzutragen. Geschieht „direkte” Sterbehilfe tatsächlich so sehr aus Mitleid mit dem Todkranken, oder nicht mehr aus Selbstmitleid, weil man mit Tod und auch mit solcher Art von Hilflosigkeit nicht konfrontiert werden will? Die wahre Hilfe beim Sterben leisten jene, die den Mut haben, einfach dabeizubleiben. Oder jene, die in einem Sterbehospiz Menschen auf ihrem letzten Weg begleiten, diesen nicht gewaltsam abkürzen.

Sterbehilfe ä la Holland: ist das nicht auch die Bankrotterklärung einer säkularisierten Gesellschaft, die sich von Gott emanzipieren wollte und nun mit ihm auch den Sinn für das wahrhaft Menschliche verloren hat?

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