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Sterben im Spital - Tabu der Gesellschaft?

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Je mehr in unserer Gesellschaft Autoritäts- und Sexualtabus gestürzt werden, desto deutlicher wird das „Todestabu“ neu aufgerichtet, stellt der Ordinarius für Pastoraltheologie an der Universität Salzburg, Univ.-Prof. Dr. Gottfried Griesl, fest.

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Je mehr in unserer Gesellschaft Autoritäts- und Sexualtabus gestürzt werden, desto deutlicher wird das „Todestabu“ neu aufgerichtet, stellt der Ordinarius für Pastoraltheologie an der Universität Salzburg, Univ.-Prof. Dr. Gottfried Griesl, fest.

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Man rechnet, daß in unserer urbani- sierten Gesellschaft von 100 Menschen 80 im Krankenhaus sterben, zehn in Pflegeheimen und nicht mehr als zehn daheim bei ihren Angehörigen. Das bedeutet für die meisten eine medizinisch hochstehende, humane Pflege bis in die letzten Stunden: der Moribunde wird sorgfältig ernährt, gewaschen und ständig ärztlich umsorgt. Schmerz und Atemnot werden gelindert; der Aufgelegene in frischer Wäsche auf Wasserkissen umgebettet. Dahinter steht ein Maß sozialer und sittlicher Leistung, das alle Anerkennung verdient. Man kann gerechterweise nicht das einstige Sterben im Schoß der Großfamilie idealisieren, um es einem seelenlosen Tod im Apparat der heutigen „Thanatokraten“ (J. Fiedler) gegenüberzustellen. Dennoch verschafft sich die Stimme einer neuen, wissenschaftlich immer besser begründeten Kunde vom menschlichen Sterben zunehmend Gehör und deckt einen Defekt auf, dem im Namen aller Humanität abgeholfen werden muß: einen eigenartigen Kommunikationsausfall und eine damit verbundene Unfähigkeit, dem Sterbenden wesentliches zu geben, was er braucht.

Der Sterbende regrediert, er wird zum Kind. Seine Lage gleicht der des Neugeborenen: im Umbruch des Daseins gefährdet, ausgeliefert und angewiesen auf mitmenschliche Hilfe; aber das Kind hat das Leben vor sich und der Sterbende den Tod. Während

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” sfertöf’&äßWcfh Heljfefh ße’fttffif, Wissen beim Sterbenden die wenigsten, was zu tun ist. In den medizinischen Lehrbüchern ist bis heute davon kaum die Rede. Die Ausbildung der Pflegeberufe nimmt in jüngster Zeit auf diese Aufgabe gewissenhafter Bedacht, aber es fehlt ihr noch weithin an theoretischen und empirischen Grundlagen. In ihrer ganzen Zielsetzung versteht sich ärztliche Wissenschaft und Kunst als Helfer und Garant des Lebens, sie bekämpft den Tod und räumt das Feld, wenn der Feind übermächtig geworden ist. Der Patient hat diese Auseinandersetzung vielfach allein zu bestehen, in der et am meisten gefordert und auf Hilfe angewiesen ist.

Was da am Sterbebett (nicht) geschieht, spiegelt nur unsere allgemeine gesellschaftliche Einstellung wider; es ist ein Verhalten, das nicht rational begründet (höchstens durch die sekun-

1 däre Rationalisierung, den Patienten nicht zu beunruhigen, gedeckt), sondern durch eine Steuerung geregelt wird, die alle Anzeichen eines tiefliegenden Angst-Tabus trägt. Tabu besagt Isolierung: verfallendes Leben verschwindet im Krankenhaus oder Pflegeheim (für viele Alte und Kranke bedeutet der Abbruch der vertrauten Beziehungen schon einen sozialen Tod, bevor sie der physische erreicht). Wenn dann die Stunde schlägt, wird der Patient im Sterbezimmer, im Bad oder hinter der Spanischen Wand noch einmal isoliert. Ferner Kontaktsperre: es handelt sich nicht um bösen Willen, sondern um eine unbewußt bestimmte Hemmung und Unfähigkeit, mit dem Sterbenden umzugehen, bei den Angehörigen ebenso wie beim Arzt; auch gutes Pflegepersonal unterliegt dem unbewußten Druck: es folgt dem optischen Rufzeichen des Moribunden erst in dreimal längerer Zeit als bei anderen Kranken, wie mehrere Untersuchungen ergeben haben.

Schließlich die Ritualisierung: an die Stelle des gemeinsamen Gebetes am Sterbebett ist vielfach die technische Verrichtung getreten, die bei allem humanen Wert doch als Alibi für mangelnde verstehende Zuwendung dienen kann. Zu den unbewußten Prozessen, die in unserer Gesellschaft Autoritäts- und Sexualtabus gestürzt, aber das Todestabu neu aufgerichtet haben, tritt noch ein sozio-psychologi- scher Regelkreis. Die Abschirmung des Sterbens nimmt uns die Möglichkeit der Todeserfahrung und damit der lebendigen Auseinandersetzung mit der sichersten Erwartung des Lebens; der heute 50jährige ist dem Tod nur so oft begegnet wie der 15jährige eine Generation früher; dieses Dunkel des Nichtwissens verstärkt seinerseits wieder die Angst, die das Tabuverhalten begünstigt. So wird das einsame Sterben hinter dem ParaVent zum ausdrucksstarken Symbol für ein Versagen unserer Gesellschaft: Wir unter- •schlagen im Lebenskalkül die terminalen Tatsachen und versagen unseren Sterbenden weithin das personale Geleit in der letzten Stunde. Die Paradoxie wird offenbar am Mißverhältnis zwischen der hervorragenden medizinisch-somatischen Versorgung des Sterbenden und der achselzuckenden Resignation vor dessen existenziellem Problem.

Beruhigende Vorstellungen projektiven Denkens, daß etwa der Sterbende ohnedies nicht ahne, wie es um ihn stehe, sind inzwischen von exakten Forschungen, etwa an der Universitätsklinik Erlangen, widerlegt worden. Demnach sind - abgesehen von den jähen Todesfällen - nur ein Viertel der Patienten während der letzten Stunden ihres Lebens zeitlich und örtlich nicht orientiert. Die meisten erleben das Sterben bewußt mit, wobei über 25 Prozent bis 15 Minuten vor dem Tode noch voll ansprechbar sind. Die Hälfte aller Patienten fühlt das herannahende Ende, ein Viertel bringt dieses Wissen spontan zum Ausdruck. Die Angst vor dem Sterben nimmt mit dessen Nähe auffällig ab; eine überraschende Feststellung, die durch Befragung von Reanimierten bestätigt wird.

Inzwischen hat sich die Diskussion an zwei Schwerpunkten entzündet: die Frage der Euthanasie ist wieder gesellschaftsfähig und gleichzeitig zum heißen Eisen der Intensivmedizin geworden. Eine ungeahnte Ausweitung ärztlicher Möglichkeiten in der Organverpflanzung, Wiederbelebung und Verlängerung des Lebens haben erkennen lassen, daß eine wissenschaftliche De finition des Todes noch aussteht, und Probleme geschaffen, die den Horizont der Medizin sprengen und nur in interdisziplinärer Arbeit in Theorie und Praxis verantwortlich gelöst werden können. Den zweiten Schwerpunkt bilden die dringlichen Aufgaben eines mitmenschlichen Sterbebeistandes.

Hier bietet auch die nachkonziliare Praktische Theologie ihre Hilfe an. Sie hat erkannt, daß zu der sakramentalen Hilfe und dem Gebet der Commenda- tio animae in der heutigen Situation als drittes Element der personale Sterbebeistand treten muß, der den großen Abschied in menschlicher und christlicher Würde und in der Hoffnung auf Auferstehung ermöglicht.

In welcher Weise die diskrete Aufgabe zu leisten ist, bildet noch Gegenstand von Forschung und Lehre in einem geplanten Hochschullehrgang für unsere Krankenhausseelsorger, die mehrfach zu Unrecht soziologische Randfiguren des Krankenhausbetriebes geworden sind. Die Pastoralkom- mission Österreichs hat im Dezember 1977 einen Text „Menschenwürdiges Sterben, Sterbebeistand und Euthanasie“ veröffentlicht, der außer einer gültigen Sprachregelung auch richtunggebende Informationen und ethische Normen enthält. In der Universitätsklinik Heidelberg wird das Wer und Wie des Sterbebeistandes durch ein Konsilium von Arzt, Angehörigen, Seelsorger und Pfleger entschieden. Das Heil des ungeteilten Menschen verlangt Kooperation der Verantwortlichen. Die „ars moriendi“ gehörte im 15. Jahrhundert zu den ersten Druckwerken, die in Massen verbreitet wurden. Sie sollte auch im modernen Krankenhaus wieder möglich sein.

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