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Sterbender Staat

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Das zweite Jugoslawien zerfällt. Die Tabus sind ge- fallen. Man entlarvt das sta- linistische Antlitz des Anti- stalinisten Tito. Ein Land ohne politische Vorbilder sucht seine Zukunft.

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Das zweite Jugoslawien zerfällt. Die Tabus sind ge- fallen. Man entlarvt das sta- linistische Antlitz des Anti- stalinisten Tito. Ein Land ohne politische Vorbilder sucht seine Zukunft.

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Das „dritte Jugoslawien" hat begonnen, es fehlt ihm aller- dings noch die Gestalt, die Form. Daß fast genau zehn Jahre nach Titos Tod am 4. Mai 1980 in den beiden Teilrepubliken Slowenien und Kroatien wirklich demokrati- sche Wahlen eine neue politische Landschaft hervorbrachten, daß in beiden Fällen die kommunistischen Parteien, obwohl reformbereit, nicht die Mehrheit erreichen konn- ten, das bedeutet das absolute Ende des Jugoslawien, das Tito nach dem Krieg, nach dem Sieg der von ihm kommunistisch geprägten Partisa- nen, geschaffen hatte. Es war be- kanntlich das zweite Jugoslawien.

Es ist sicherlich heute leichter zu sagen, daß Titos Vorstellung eines kommunistischen Vielvölkerstaa- tes, der zentralistisch gelenkt allen Völkern und Völkerschaften die gleichen Rechte sichern sollte, un- realistisch war, als damals - bela- stet mit den Erfahrungen des unge- mein blutigen Bürgerkriegs 1941 bis 1945 - eine bessere zu finden.

Schon die Schaffung des ersten Jugoslawien als „Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen", das voraussehbar eine Vorherr- schaft der Serben bedeuten mußte, war gewissermaßen „wider die Natur"; obwohl die politischen Sprecher aller drei Völker sich die- ses Jugoslawien gewünscht hatten. „Ein schlechtes Jugoslawien ist immer noch besser als gar keines", hieß es damals sogar in Slowenien.

Der zugrunde liegende „jugosla- wische" Gedanke, der im 19. Jahr- hundert in verschiedenen Variatio- nen, einmal kroatischer, einmal serbischer oder panslawistischer Prägung, mehr durch die Literatur als durch die Politik geisterte, ver- waiste zwischen 1918 und 1941 vollends. Stattdessen steigerten sich die kroatisch-serbischen Rivalitä- ten zu Gewalttätigkeiten.

Die Jugoslawen haben jetzt gera- de begonnen, ihre Vergangenheit, soweit sie mit Tito und seinem Regime verbunden ist, ganz neu zu schreiben. Alle Tabus sind gefal- len, von Personenkult, der bis eini- ge Jahre nach Titos Tod andauerte, keine Spur mehr.

Zu dem neuen Denken gehört die noch nicht eindeutig zu beantwor- tende Frage, ob Tito bei der Schaf- fung des Nachkriegs-Jugoslawien aufrichtig um eine gute Lösung bemüht, zutiefst von der Richtig- keit seiner Konzeption überzeugt gehandelt hat, oder ob schon da- mals das Leitmotiv die Errichtung und Erhaltung seiner absoluten Macht war.

Die Antwort auf diese Frage wäre sehr wichtig. Denn ohne sie weist die Konzeption unverständliche Elemente auf. Warum zum Beispiel wurde nicht, vor dem Hintergrund der zweifellos bestehenden, emo- tional getragenen Erfahrung der „Brüderlichkeit" aus den gemein- sam erlebten und überwundenen Strapazen des Befreiungs- und Bürgerkrieges,. ein wirkliches „ Jugoslawentum" angestrebt? Dazu wäre sowohl die Einigung auf eine „Staatssprache" (serbo-kroatisch oder kroato-serbisch) bei gleich- zeitiger Legalität der jeweiligen Sprachen im lokalen Bereich not- wendig gewesen, als auch der Ver- zicht auf das (bei den Volkszählun- gen immer wieder ins Spiel gebrach- ten) Nationalitätenbekenntnis: Kroate, Montenegriner, Muselman (in Bosnien) und so weiter.

Warum wurden zwar National- staaten in Gestalt von Republiken geschaffen, aber mit Grenzen, die weder historisch, noch bevölke- rungsmäßig, landschaftlich oder wirtschaftlich motiviert waren?

Heute neigen viele in Jugosla- wien der Ansicht zu, daß Tito höchstwahrscheinlich weder ein ideologisch überzeugter Kommu- nist noch ein patriotisch solider Jugoslawe war, sondern nur ein Ziel in seinem Leben verfolgte: Soviel Macht und Einfluß zu erlangen, daß er das Leben führen konnte, das er um jeden Preis erreichen wollte. Mit beispielloser Konsequenz, mit ebenso viel Mut, Phantasie und Geschick wie Skrupellosigkeit, Brutalität hat er seine Karriere gemacht - und Glück gehabt. Die Technik der Machtergreifung, - ausübung und -erhaltung lernte er in den vielen Jahren seiner wieder- holten Aufenthalte in der Sowjet- union, von der Oktoberrevolution bis zu den „stalinistischen Säube- rungen" Mitte der dreißiger Jahre.

Es ist fast schon müßig, heute die Frage zu stellen, ob ein seriöserer Tito ein stabileres Jugoslawien aufgebaut hätte, denn „sein" Jugo- slawien hat ihn - wie schon gesagt - jedenfalls nicht einmal zehn Jah- re überlebt. Dabei ist unüberseh- bar, daß Titos (zwar extrem unfähi- ge) „kollektive" Nachfolger daran nicht schuld sind. Hingegen muß- ten erst nach Titos Tod die Bürger des Landes die Zeche für seine Fehler und Unterlassungen zahlen. Immer wieder hatten Experten ihm genau vorausgesagt, was die Fol- gen einer vernachlässigten Wirt- schaftspolitik, einer wachsenden Sozialproblematik sein würden - Tito aber schlug alle Warnungen in den Wind.

Da er gleichzeitig für eine erst- klassige Reputation Jugoslawiens vor allem im westlichen Ausland sorgte, konnten die Sünden seiner Innenpolitik so lange verborgen bleiben. Das Ausmaß des in diesem Rahmen praktizierten Terrors wird auch den Jugoslawen erst langsam, gleichsam als Spiegel vorgehalten.

Die überlebenden Opfer begin- nen aus der Anonymität eines jahr- zehntelangen, gewaltsam auf erleg- ten Schweigens aufzutauchen und ihre Sprache wiederzugewinnen. Über die Zahl derjenigen, die er- schlagen, erschossen, erhängt, zu Tod gemartert wurden, die als schwer geschädigt an Leib und Seele nach ihrer „Freilassung" star- ben oder heute noch vegetieren, gibt es keine Statistiken.

Hatten Titos Partisanen unmit- telbar nach Kriegsende Zehntau- sende Feinde, die in ihre Hände fielen, Volksdeutsche, die nicht rechtzeitig geflüchtet waren, po- tentielle und tatsächliche politische Widersacher einfach ermordet, niedergemetzelt, so war Titos Ge- heimpolizei nach 1948, nach dem Bruch der jugoslawischen KP mit der Sowjetunion, Vollstrecker von noch viel grausameren Methoden gegen diejenigen, die eine Gefahr für Titos Macht bedeuten konnten.

Während also Tito in der Welt dafür gefeiert wurde, sich von Sta- lin losgesagt und einen eigenen Sozialismus entwickelt zu haben, herrschte im Land in tiefster Heim- lichkeit der schrecklichste „stali- nistische" Terror.

Den Menschen in Jugoslawien stehen - als Erbe Titos - ungeheure Schwierigkeiten bevor. Ohne posi- tive Vorbilder müssen sie eine neue Zukunft gestalten - und werden dabei immer wieder auf ihre jüng- ste Vergangenheit stoßen. Während die übrigen kommunistisch regier- ten Länder in Europa einen Teil der Verantwortung für diese Vergan- genheit auf die Sowjetunion, auf wechselnde führende Persönlich- keiten unter den eigenen verant- wortlichen Kommunisten verlagern können - den Jugoslawen ist dies versagt. Sie haben ohne entschei- dende Hilfe der SU den Krieg ge- wonnen; aber auch die Jahre da- nach sind ausschließlich von Tito und seinen (in der Mehrheit serbi- schen) Mitarbeitern und Handlan- gern geprägt worden.

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