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Sterbetag der DDR

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Gestern, 3. Oktober, wurden die Deutschen wieder ein Volk. Die Freude ist jedoch getrübt. Denn künftig wird es im vereinigten Deutsch- land einen unterentwickel- ten Teil geben.

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Gestern, 3. Oktober, wurden die Deutschen wieder ein Volk. Die Freude ist jedoch getrübt. Denn künftig wird es im vereinigten Deutsch- land einen unterentwickel- ten Teil geben.

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Wunder, die es bisher nicht gab, wird es auch jetzt - nach der Verei- nigung der beiden Deutschländer zu einem Staatsgebilde - für die ehemaligen DDR-Bürger nicht geben. Mit Wehmut und einer „Träne im Knopfloch" (Lothar de Maiziere) hat vor einer Woche das Ost-Berliner Kabinett in seiner letzten Sitzung Abschied von der DDR genommen. Seit gestern gibt es nur mehr ein Deutschland.

Der Heilungsprozeß im, jetzt müßte man sagen unterent- wickelten Teil Deutschlands wird noch viel Zeit in Anspruch nehmen. Am 14. Oktober finden die Land- tagswahlen in den fünf neuen Bun- desländern Thüringen, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern statt. Helmut Kohl hat vor 18 Tagen den Wahlkampf eröffnet; in einer Si- tuation, die nicht mehr von der stürmischen Euphorie des Vorfrüh- lings und des Frühlings vor den ersten freien und geheimen Wahlen in der im 41. und letzten Lebens- jahr stehenden Deutschen Demo- kratischen Republik geprägt ist.

Der 1. Juli 1990, der Tag der Wirtschafts-, Währungs- und So- zialunion brachte nicht zur Kennt- nis genommene Tatsachen ans Tageslicht. Die damals Noch-DDR- Bürger lernten in kurzer Zeit mehr die Schattenseiten denn die Vortei- le der sogenannten sozialen Markt- wirtschaft kennen. Der Übergang von der alten Kommandowirtschaft vollzog sich zu rasch, die Betriebe sind verschlissen, ihre Produkte trotz emsigen Fleißes der Arbeiter nicht weltmarktfähig. 1,5 Millio- nen Arbeitslose und Kurzarbeiter sprechen für sich. Die Städte sind dem Verfall preisgegeben, die Um- welt ist zerstört - alles Folgen der 40jährigen maroden Planwirt- schaft.

Dazu kam noch das zum gegen- wärtigen Zeitpunkt noch immer auf allen Ebenen herrschende Rechts- unsicherheitsvakuum.

Parlamentarische Händel über Verbleib oder Nichtverbleib der einstigen Stasi-Akten nach der Vereinigimg in der DDR - einge- bracht von der Oppositionsgruppe „Wahlbündnis 90" - verkomplizier- ten noch die Lage. Amateurhafte Kleinkrämereien kennzeichneten die Parlamentsarbeit in der letzten Phase, während wesentliche Auf- gaben nicht bewältigt werden konn- ten. Auch für Parlamentarier gilt, daß es einer gewissen Zeit bedarf, um nach 40 Jahren sozialistischer Gewaltherrschaft Demokratie zu erlernen. Oft erschwerten gerade jene Leute mit Revoluzzertum den Reifeprozeß, die vor einem Jahr Bahnbrecher der Menschenrechte und der Demokratie waren - näm- lich die Vertreter des „Neuen Fo- rums" oder der Bewegung „Demo- kratie jetzt".

Es ist sehr schwer, eine mit Sturm und Tatendrang plötzlich erfüllte junge Generation von ihren anschei- nend in die Irre gehenden Idealen abzuhalten. Ob es wirklich allen um das wahre Anliegen geht, ist fragwürdig. Nicht selten geht es um ein Heraustreten aus der Alltags- monotonie. Der Autor dieser Zeilen war Zeuge, als Lehrlinge in einem Dorf im Norden Sachsens in einem Gespräch davon redeten, endlich wieder an einer Anti-Stasi-Aktion teilnehmen zu können, weil es da Stimmung gebe. Betroffene des Ulbricht- oder Honecker-Regimes, die allen Grund hätten, auf die Straße zu gehen und heute noch auf ihre Rehabilitierung warten (ob- wohl es ein Gesetz dazu gibt, aller- dings ohne die erforderlichen Durchsführungsbestimmungen), schweigen dazu.

Der Handel ist weiterhin in staat- lichen und genossenschaftlichen Händen. Man ließ sich von Streiks beeindrucken und verschob die Ausschreibung der HO-Läden. Im genossenschaftlichen Handel schanzten sich die alten Direktoren neue Funktionen zu und reden jetzt von sozialer Marktwirtschaft.

Die Reprivatisierung ist über- haupt noch nicht abgeschlossen, der Mittelstand ist verbittert, er sieht nur wenige Chancen. Die Betriebe gingen bis auf ehemalige halbstaat- liche Betriebe alle in westliche Hände über.

PDS-Parteichef Gregor Gysi hat in der Fernsehsendung „Klartext" den 3. Oktober als den Sterbetag der DDR bezeichnet. Ohne den gerade jetzt sehr zur Demagogie neigenden Gysi besondere Bedeu- tung zugestehen zu wollen, wahr ist seine Begründung, daß mit dem Ableben der DDR für viele Menschen ein Stück persönlicher Erinnerung zu- rückgelassen wird. Vom emotional-psychologischen Standpunkt aus kann man dies als ein Verdrängen der positiven und negativen Er- innerungen bewerten. Wie Gysi denken und handeln nämlich viele Menschen in der DDR. Sie sind sich zwar bewußt, daß der Staat Ul- brichts und Honeckers ih- nen nichts anderes als Un- freiheit bieten konnte, aber alle sind noch infiziert von einem Stück des alten Den- kens, daß der Staat für seine Bürger denkt und für sie alles erledigt, daß die eige- ne Kreativität eigentlich sekundär ist. Und wenn heute jemand Initiative zeigt, schon treten Bremser ans Werk ein Kreislauf ohne Ende.

Nur wenige der bisherigen DDR- Bürger haben sich mit dem DDR- Staat identifiziert. DDR-Bürgerha- ben auch niemals ein eigenes Na- tionalbewußtsein entwickelt. Wenn trotzdem ein sogenannter Minimai- Patriotismus zum Ausdruck kam, war er nichts anderes als eine Trotz- reaktion auf vorhandene Spannun- gen zwischen West- und Ost- deutschland (im FURCHE-Dossier über die beiden Deutschländer, Nummer 17/1989 hat Roland Hof- wiler die „Verdrossenheit als Iden- tität" der Ostdeutschen bezeichnet). Das gilt es jetzt bis ins letzte Dorf in Ost und West abzubauen.

Der Staatsvertrag ist unterzeich- net, die Alliierten haben Deutsch- land volle Souveränität gewährt. Der Vertrag von Moskau hat ein düsteres Kapitel deutscher Ge- schichte beendet. Trotz einiger Wer- mutstropfen war der 3. Oktober im tiefsten Inneren für jeden „DDR- Bürger" ein wahrer Freudentag.

Es bleibt nur zu hoffen, daß die Glocken gestern, am Sterbetag der DDR und am Tag der Auferstehung eines neuen Deutschlands, ein ver- stärktes Aufeinanderzugehen, eine Solidarität aller Deutschen in Ost und West in einem gemeinsamen Vaterland eingeläutet haben.

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