7021178-1988_45_10.jpg
Digital In Arbeit

Stilles Strömen der Zeit

Werbung
Werbung
Werbung

auf den balkonen. er sieht das gärtchen des hausbesorgers, den er nur von seinen schildern her kennt: vorsieht, rutschgefahr! bitte haustor zumachen! lärmen und ballspielen verboten! aufzug außer betrieb! betreten des ra-sens verboten! ruf zeichen! er sieht das gärtchen des hausbesorgers, das in regelmäßige rechtecke geteilt ist und so saubergehalten wird, daß nichts darin wächst, er sieht die zwei meter hohe mauer um das zwölf qua-dratmeter große gärtchen und auf der mauer einbetonierte glas-scherben zum schütz gegen die kinder des nebenhauses. er sieht autos auf dem parkplatz, die leu-ten gehören, die er nicht kennt, die sich nicht kennen, die nur ihre autos kennen und sich nur von ihren autos her kennen. er sieht fenster, hinter denen leute wohnen, die er nur daher kennt, daß sie die vorhänge zuziehen, wenn sie ihn am fenster sehen, und die er nur daher kennt, daß er die vorhänge zuzieht, wenn er sie am fenster sieht.

Zeitverschiebung auf der erde gehen die lichter zu unterschiedlichen Zeiten an und aus. wenn Österreich erwacht, gehen in neuseeland die kleinen kinder zu bett. wenn ein türke nachts um drei träumt, steht ein mexikaner nachmittags um fünf auf seinem feld. dort können die leute jetzt baden, dort stehen sie im wind. um fünf uhr früh ist es auf den falkland inseln zehn uhr vormittag, in alaska sechzehn uhr und in rußland mitternacht. vielleicht ist das die stunde, in der die einsamen hirten auf den sibirischen steppen ihre schlichten und ergreifenden lieder gedichtet haben, die dich in einer bar um fünf uhr früh zu tränen rühren. bali der wecker reißt marion aus dem schlaf, sie schläft mit über die ohren gezogener decke, wacht schwer auf, auch wenn sie keine tabletten genommen hat. marion haßt uhren. sie wirft den morgen-mantel über, schlurft in die küche und beginnt mit dem frühstücks-ritual: kaffeewasser aufsetzen, brot schneiden, musik im radio suchen, ein flüchtiger blick aus verquollenen äugen in den Spiegel — soll das wirklich ich sein? der automatische griff zur Zahnbürste. ' auf dem küchentisch liegt die gestrige zeitung. amokläufer, morde, rekorde. das horoskop (selig sind die leichtgläubigen), die heiratsannoncen: grundstück, Wasserbecken, wunderbare läge am hang, labyrinthe verbauter hoffhungen. in bali ist es jetzt nachmittag, denkt marion und steckt sich eine Zigarette an. noch drei monate bis zum Urlaub, denkt marion, während sie das badewasser einläßt. weg zur arbeit fünf Pflastersteine weit sehen, randstein, kanalgitter, fahrbahn. einmal sand, einmal pflaster, einmal asphalt. die beine gehen von selbst, weichen anderen beinen aus, machen andere beine ausweichen, rechts und links häuser. die kühle aus den toren. so gehen blinde vielleicht, wie lang hältst du es aus mit geschlossenen äugen, Versuchs ab und zu gerüche: teer, mauerschwamm, kohl, benzin, deodo-rant. stufen, beschädigte mauer -sockel, ein blechschirm, wieder beine. eine holzplanke, plakatieren verboten, weißer küchenka-sten entflogen, schatten über die halbe straßenbreite, gemeindebauten, papierfetzen im rinnsal, das klappern eines müllkübel-deckels, eine teppichstange. einbiegen, ausweichen, überqueren, wieder einbiegen, um die nächste ecke, leerlauf von gehen und denken. eine taube fliegt vor ihm auf. er verfolgt ihren aufstieg mit den äugen, ohne den köpf zu heben, der himmel interessiert ihn nicht. weltausschnitt ganz alltäglich wenn otto k. nach dem erwachen den ersten blick aus dem fenster wirft, sieht er keine wasche auf der leine, keine, kinder wie lang ist ein tag? der tag ist 24 stunden lang, aber unterschiedlich breit (alte bau-ernregel). die sechsjährigen lernen es in der schule: ein tag hat zwölf stunden, und zwölf stunden hat die nacht, die ämter wissen es auch: ein arbeitstag hat acht stunden. wenn anna b. morgens von da-heirrffortfährt, sieht sie kaum ein winziges stück von ihm. und wenn sie abends zurückkommt, ist er fast vorbei, sie hat ihn versäumt, verwartet, verarbeitet, verlümmelt, versessen, verredet, verweint, er ist aufgebraucht bis zum letzten stück. krähen die krähen nächtigen in den baumkronen auf dem wilhelmi-nenberg. wenn die nacht ihre netze einzieht, erheben sie sich fröstelnd aus den ästen und probieren, ob ihre flügel nicht ohne sie davongeflogen sind, hörst du die flügel? hörst du das schlagen? hörst du die rauschende luft? der himmel wird leichter, heller, der himmel ist ein schiff, ein wunderbares luftschiff. hörst du das pfeifen? das krächzen? das schnattern? hörst du das rauschen der luft? als ob jemand ruft, der himmel, der gefiederte himmel. die vögel, sie kommen, sie fliegen so schnell, und keiner, der den anderen verletzt, nehmt mich mit! nehmt mich bitte mit! regen sechs uhr früh, es regnet, frau gruber steht am blumenfenster, hört den tropfen zu. aus dem nebenzimmer kommt ein stöhnen, er hat sich wieder auf den rücken gedreht, sie geht hinaus, öffnet den kühlschrank. das frühstück ist schnell gemacht, haferflocken und tee. sein magen wird sich nicht mehr erholen, auch wenn er jetzt nicht mehr raucht, was wird er sagen, bevor er aus dem haus geht? sie gießt die blumen: parma-veilchen, azaleen, weihnachts-sterne, den farn. sie füttert das meerschweinchen mit weizenkör-nern, heu, einem stück gurke, mistet aus. na dann, bis mittag, sagt er und geht, frau gruber schaltet das radio ein. die nachrichten hört sie schon zum dritten mal. der efeu auf dem balkon ist eingegangen, das thermometer fällt, jeder abschied ist eine niederlage. ob es den ganzen tag regnen wirtf?

älterwerden die pendeluhr schlägt sechsmal, sie hat ein großes ziffernblatt aus email und zwei spitze zeiger. schon sechs, sagt maria. jetzt könnte er zum beispiel „ich weiß“ sagen. in regelmäßigen abständen knackt es in der uhr. wenn man sie anschaut, versucht sie harmlos auszusehen, aber im nächsten moment schnellt der minutenzei-ger einen teilstrich weiter, um halb sieben sagt maria: es wird schon bald hell draußen, warum antwortet er nicht? warum sagst du nichts, fragt sie. die pendeluhr schlägt siebenmal. du schaust nicht gesund aus, sagt maria. sein gesicht ist ganz grau, das kissen weint vor ermat-tung. die uhr sieht verlogen drein, der tag ist ein wenig älter geworden.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung