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Stimme der „verrückten" Nächstenliebe

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Der langjährige Caritas-Präsident Leopold Ungar, eine der markanten Persönlichkeiten der katholischen Kirche Österreichs, ist gestorben. Wer war dieser „Prophet der Nächstenliebe"?

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Der langjährige Caritas-Präsident Leopold Ungar, eine der markanten Persönlichkeiten der katholischen Kirche Österreichs, ist gestorben. Wer war dieser „Prophet der Nächstenliebe"?

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Leopold Ungar, der am 30. April nach langem, schwerem Leiden heimgeholt wurde, war aus jenem Holz, aus dem Bischöfe und andere große Kirchenmänner geschnitzt sind.

Daß er, der 1912 in Wiener Neustadt als Sohn einer jüdischen Kaufmannsfamilie Geborene, nach der Konversion zum Christentum 1935 als frisch promovierter Jurist ins Wiener Priesterseminar eintrat, überraschte seine Umgebung, die ihm eine glänzende Karriere als Anwalt oder Diplomat zugetraut hatte. Ungar, der 1939 in der Emigration in Frankreich die Priesterweihe empfing und erst 1947 nach Österreich zurückkehrte, ließ sein Leben lang seine Umgebung staunen, da er sich nie einordnen ließ. Seine Lebensaufgabe wurde die Caritas: 1950 wurde er ihr Direktor in der Erzdiözese Wien (bis 1988), 1964 ihr Präsident für Österreich (bis 1991).

Beide Funktionen gab er an Helmut Schüller ab, der nun in der ORF-Orientierung" formulierte: „Das eigentliche Erbe des Prälaten Leopold Ungar ist das lebendige, fast etwas nervöse Verständnis von Liebe, das sich gegen Institutionen wehrt und das eigentlich immer den Respekt vor dem Menschen aufrecht erhält. Er hat das alles aus einem sehr tiefen Glauben gelebt und vorgelebt, und es war schon zu seinen Lebzeiten schwer, seinen Schritten zu folgen, wir werden es aber weiterhin tun müssen."

Ungar war sich nie zu gut, für die Notleidenden zu betteln, und begründete das 1964 anläßlich des Euchari-stischen Weltkongresses in Indien so: „Das sind die Brüder Christi - er hat es gesagt... Meine Stimme ist nicht meine Stimme, sondern die der Hungernden, noch genauer: Christus bettelt durch uns. Er selber bettelt um Ihre Hilfe. Und Sie können nicht nur dadurch, daß Sie die Kommunion empfangen, sondern dadurch, daß Sie den Notleidenden helfen, mit ihm in Kommunion treten."

Die Eucharistie stand für ihn im Zentrum , sagt Helmut Schüller, dabei sei keinerlei Trennung zwischen Kirche und Welt spürbar gewesen: „Wenn er Messe gefeiert hat, hatte man das Gefühl, jetzt tut er etwas, von dem er meint, das ist jetzt Kirche: der Priester, die Gläubigen, die Gemeinde, der Vorgang der Kommunion -aber mit dem Blick hinaus über den Kirchen- und Altarraum natürlich. Da waren die Mauern niedergelegt, da war für ihn klar, daß diese Liebe uns deshalb gegeben ist, weil wir damit in einer Welt zu bestehen haben und weil wir auch den Menschen in der Welt beizustehen haben."

Ungar baute die Caritas von einer „Suppen- und Teeküche" zu einem „Koloß der Nächstenliebe" aus, ttiit Auslandshilfe-Abteilung, Obdachlosenheimen, Randgruppenbetreuung, Flüchtlingshilfe. An die Ungamhilfe 1956 dachte er gerne zurück, da habe eine Art Gleichgewicht zwischen dem Ausmaß der Not und jenem der Hilfsbereitschaft bestanden, das er leider später nicht mehr spürte. Oft nahm er sich Zeit für lange persönliche Gespräche mit Hilfesuchenden, schickte keinen weg, und war - so energisch er sonst sein konnte - nicht imstande, solche Gespräche abrupt zu beenden.

Was sollte seiner Meinung nach die Caritas auszeichnen? „Die verrückte' Nächstenliebe, die ja in der Bergpredigt begründet ist. Das heißt, das, was uns unterscheidet von anderen Organisationen, müßte sein, daß wir den Feind lieben, daß wir nicht fragen, ob jemand ein Gesinnungsgenosse ist oder den ,Stallgeruch' hat, den wir gewohnt sind. In den Anfängen meiner Tätigkeit hat man, bevor man eine Unterstützung gegeben hat, in der Pfarre anfragen lassen, ob der ein praktizierender Christ ist, auch ob er die Kirchensteuer bezahlt. Alles das gibt's nicht mehr. Gott sei Dank." Helmut Schüller betont die gute Gesprächsbasis, die Ungar mit Angehörigen aller politischen Lager, Konfessionen und Religionen hatte.

Ungar formulierte bewußt drastisch, weil es ihm, wie er sagte, weniger unangenehm gewesen wäre, „strafversetzt" zu werden, als sich mit der Not abzufinden. Anderen mögliche Hilfe vorzuenthalten und zu empfehlen, ihr Leid als Kreuz anzunehmen, davon hielt er gar nichts. Er konnte scharf gegen wenig hilfsbereite „Fromme" wettern, denen er „Pharisäismus" vorwarf, „wenn sie sie sich mit den Leiden der anderen mühelos abfinden und nur das private Zahnweh, das eigene, für eine Katastrophe halten".

Das eigene Leid war ihm weniger wichtig als das Leid anderer. Beeindruckend, was er 1991 zu Weihnachten, gezeichnet von seiner Krankheit, im Femsehen sagte: „Gott ist ein Mysterium, das sich entscheidet, sich in dem Sinn zu offenbaren, daß es in unsere Nähe tritt. Das ist das Kommen, und das Kommen hat Konsequenzen. Wer ihn zurückweist, keine Zeit hat, trägt die Folgen. Wer ihn aufnimmt, erlebt Wunder, erlebt Weihnachten auch als ein Wunder, selbst wenn er in einem grauslichen, zerschossenen Haus irgendwo ist und nicht weiß, ob er den nächsten Tag noch erlebt. Ebenso dieser Friede Christi, das ist nicht der Kitschfriede, von dem so viel gequatscht wird, sondern den hat man auch im Konzentrationslager. Vordem Exekutionskommando und in den schwierigsten Stadien einer tödlichen Krankheit kann man den Frieden haben, das heißt eine Sicherheit, die trotz Schmerzen und Gefahren da ist: daß eben der, der schon einmal gekommen ist, jetzt zu mir kommt und mich eventuell holt, was ja nicht nur eine Tragödie ist."

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