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Strafvollzug zwischen Risiko und Chance

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In der Nacht vom 16. auf den 17. Jänner wurde der Garstener Häftling Werner Kniesek, der zur Regelung persönlicher Angelegenheiten drei Tage Hafturlaub erhalten hatte, in St. Pölten zum Dreifachmörder. Das Morddrama löste emotionsgeladene Diskussionen aus. Gegen den herkömmlichen Strafvollzug wurde ebenso wie gegen einen reformierten polemisiert. Die Tat eines abnormen Rechtsbrechers nährte Mißtrauen und allgemeine Vorurteile. Man sieht das Risiko am konkreten Einzelfall, die Chance in vielen anderen Fällen übersieht man. Mit diesem Problem beschäftigt sich eine unter dem Titel „Strafvollzug heute" kürzlich erschienene Studie der „Sozialwissenschaftlichen Arbeitsgemeinschaft", der wir nachstehenden Auszug entnommen haben.

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In der Nacht vom 16. auf den 17. Jänner wurde der Garstener Häftling Werner Kniesek, der zur Regelung persönlicher Angelegenheiten drei Tage Hafturlaub erhalten hatte, in St. Pölten zum Dreifachmörder. Das Morddrama löste emotionsgeladene Diskussionen aus. Gegen den herkömmlichen Strafvollzug wurde ebenso wie gegen einen reformierten polemisiert. Die Tat eines abnormen Rechtsbrechers nährte Mißtrauen und allgemeine Vorurteile. Man sieht das Risiko am konkreten Einzelfall, die Chance in vielen anderen Fällen übersieht man. Mit diesem Problem beschäftigt sich eine unter dem Titel „Strafvollzug heute" kürzlich erschienene Studie der „Sozialwissenschaftlichen Arbeitsgemeinschaft", der wir nachstehenden Auszug entnommen haben.

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Die Öffentlichkeit steht Lockerungen im Strafvollzug oft mit Verständnislosigkeit gegenüber, weil die Meinung vertreten wird, es würde ein zu großes Sicherheitsrisiko eingegangen. Mit der Vorstellung, Voraussetzungen des 99 Strafvollzugsgesetz (Unterbrechung der Freiheitsstrafe) teilweise auch für eine eventuell gesetzlich einzuführende erweiterte Strafunterbrechung zur Anwendung zu bringen, sollte versucht werden, dem (größtenteils emotional begründeten) Sicherheitsbedürfnis der Bevölkerung Rechnung zu tragen.

Es ist selbstverständlich, daß nicht jedes Risiko ausgeschaltet werden kann, daß also Lockerungen im Einzelfall durchaus zur Begehung auch erheblicher Straftaten mißbraucht werden können. Es stellen jedoch Strafgefangene, die ausschließlich oder größtenteils nur in einer geschlossenen Situation angehalten werden und so keiner oder nur ungenügenden Entlassungsvorbereitungen in teilweiser Freiheit zugeführt werden können, ein wesentlich höheres Rückfalls- und damit Sicherheitsrisiko dar, da eben ihre Fähigkeit, sich in der Freiheit bewähren zu können, mangels entsprechenden Trainings geringer sein muß. Dies auch trotz größter pädagogischer Bemühungen innerhalb des Vollzuges.

Die Verwirklichung solcher realistischer und vernünftiger Vorstellungen scheint allerdings immer wieder hinausgeschoben zu werden, weil die Öffentlichkeit aus verschiedenen Gründen den Bemühungen um den straffällig gewordenen Menschen noch immer mit größtem Mißtrauen

gegenübersteht, obwohl diese Bemühungen vermehrt geeignet erscheinen, die Gefährlichkeit von Rechtsbrechern zu reduzieren.

Während des Vollzuges einer Freiheitsstrafe an einem jugendlichen Rechtsbrecher soll dieser gemäß 56 Jugendgerichtsgesetz zu Selbstbeherrschung und Arbeitsamkeit sowie zu einem sittlich einwandfreien und gesetzmäßigen Verhalten erzogen werden. Wenn es die Dauer der Strafe zuläßt, soll er auch in einem seinen Kenntnissen und Fähigkeiten und tunlichst auch seiner bisherigen Tätigkeit und seinen Neigungen entsprechenden Beruf ausgebildet werden.

Da sich Jugendkriminalität im allgemeinen in der Folge des Ablaufes der auf der Grundlage defekter Sozialstrukturen sich ergebenden Sozialprozesse entwickelt, sind in Entsprechung des Gesetzesauftrages Methoden sozialpädagogischer und -therapeutischer Art betont zur Anwendung zu bringen, so daß es infolge der vermehrten Zuwendung und wohlwollenden Begegnung mit den jugendlichen Rechtsbrechern zu fortschreitender Liberalisierung und Demokratisierung des Gemein-

Schaftslebens in der Anstalt und damit zu vermehrter Eigenverantwortlichkeit der Jugendlichen kommt.

Dadurch kann wiederum der Jugendstrafvollzug der Gegenwart seiner Aufgabe, eine soziale Drehscheibe und damit Vorbereitung für eine echte Selbstverwirklichung des einzelnen in einer freien Gesellschaft zu sein, gerecht werden.

Dem Jugendstrafvollzug ist von Gesetzes wegen die Möglichkeit eingeräumt, Gruppenausgänge in der Form durchzuführen, wie sie als Forderung von Vollzugspraktikern auch für den Erwachsenenvollzug zur besseren Anpassung von Strafgefangenen an die Verhältnisse in Freiheit erhoben wurden.

Im Frühjahr 1978 befanden sich Bedienstete der Sonderanstalt für Jugendliche in Gerasdorf mit einigen jugendlichen Strafgefangenen zur Besichtigung eines Betriebes außerhalb der Anstalt auf Gruppenaus-

gang. Zwischen Ende der Besichtigung und Einrücken in die Anstalt war noch ein Lokalbesuch vorgesehen. Dies aus der realistischen Uber-legung, daß auch solches zur Bewältigung der Freiheit (und Freizeit) gehört.

Während dieses Lokalbesuches flüchtete nun einer der auf den Ausgang mitgenommenen Strafgefangenen, bei dem es sich obendrein um einen wegen Mordes an einer alten Frau Verurteilten handelte. Der Strafgefangene irrte nach seiner Flucht in den Wäldern umher, bettelte, als ihm sein Hunger unerträglich wurde, eine alte Frau um Nahrung an, bekam zu essen, bedankte sich und stellte sich kurz darauf selbst den Behörden.

Die Feststellungen insbesondere der Massenpresse anläßlich dieses Vorfalles richteten sich wieder einmal voll gegen den „humanen Strafvollzug", dies auch noch nach der Selbststellung des Geflüchteten. Nun soll dieser Fluchtfall gar nicht beschönigt werden. Als gegeben erscheint jedoch, daß der pädagogisch orientierte Strafvollzug bei diesem Insassen doch gewisse Einsichtsfähigkeiten zur Entwicklung gebracht hat, die

er früher nicht hatte: Er stellte sich selbst und trat während des Fluchtzeitraumes nicht kriminell in Erscheinung.

Nicht eine Pressemeldung ging hierauf halbwegs mit Verständnis ein. Im Gegenteil: Man konnte sich des Eindruckes nicht erwehren, daß es so manchem der Kommentatoren durchaus in den Kram gepaßt hätte,

wenn der Gefangene während seiner Flucht ein schweres Delikt begangen hätte. Es wäre derart die Sensation noch günstiger zu verkaufen gewesen.

Aber abgesehen von all diesen Umständen, die zeigen, daß Journalisten eben auch in Sachen Strafvollzug den allgemein üblichen Verdrängungsund Projektionsmechanismen unterliegen, wird durch Aufbauschung solcher Einzelfälle durch die Medien nur erreicht, daß Liberalisierungstendenzen im Vollzug gebremst werden, die wegen der Reduktion des Rückfallrisikos letzten Endes der Sicherheit der Öffentlichkeit dienen. Damit wird das Gegenteil dessen erreicht, was die Presse erreichen will, die „Wiederherstellung" der öffentlichen Sicherheit.

Ein Beispiel für diesen bedauerlichen Trend ist auch die Absicht des Jusitzressorts, Entscheidungen über die bedingte Entlassung gewisser Tätergruppen im Wege einer Gesetzesänderung einem Schöffengericht zuzuweisen. Anlaß hiefür bot der Mord an einem holländischen Staatsbürger und zwei österreichischen Zollbeamten durch zwei kurz vorher bedingt aus der Strafhaft Entlassene.

Selbst dem reformfreudigsten Justizminister, der stets für eine von Vernunftgründen getragene Gestaltung des Vollzugswesens eingetreten ist, sind die Hände gebunden, wenn eine Partei, um Stimmen zitternd, ihn „zurückpfeift".

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