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Streit unter Brüdern

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Historische Erkenntnisse bereiten den Bruderländern Ungarn und Rumänien Schwierigkeiten: Es geht um die Minderheiten.

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Historische Erkenntnisse bereiten den Bruderländern Ungarn und Rumänien Schwierigkeiten: Es geht um die Minderheiten.

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„Schamhaft wie eine Jungfrau“ ist nach den Worten des ungarischen Historikers Sändor Balogh die im November des Vorjahres in Budapest vorgestellte dreibändige „Geschichte Siebenbürgens“, herausgegeben vom jetzigen Kulturminister Bėla Köpeczi. Und trotzdem hat das Werk wie eine Bombe in die — seit langem wegen der Situation der ungarischen Minderheit in Siebenbürgen — gespannten Beziehungen zwischen den sozialistischen Bruderländem Ungarn und Rumänien eingeschlagen.

Die Nationalitätenpolitik der beiden Warschauer Pakt-Staaten hat mit dem Engagement ungarischer Historiker in der Minderheitenproblematik neue Impulse erhalten. In Ungarn profitieren die Geschichtswissenschaften von einer freieren Atmosphäre (FURCHE 11/1987). Für Rumänien ist Geschichte Dienerin von Ideologie und Politik.

Freilich ist es auch in Ungarn durchaus nicht so, daß die Historiker mit ihrem Tippen auf offene Wunden jetzt schon am Ziel wären. Bis dahin ist es noch ein langer Weg. Eine offenere Politik Ungarns hat der Wissenschaft Freiräume geschaffen, jetzt muß die Politik zusehen, wie sie mit den Ergebnissen der geschichtlichen Forschungen zu Rande kommt.

Denn Geschichte ist in Ungarn in den letzten Jahren „in“ geworden. Deren Breitenwirkung — so der Historiker Zoltän Szäsz gegenüber der FURCHE (er war während eines Zeitraumes von zehn Jahren Leiter des Studienprojektes zur Erforschung der Sieben- bürgener Geschichte) — ist unverkennbar.

Die ungarische Bevölkerung entwickelte mittlerweile enormes Interesse an der Lage ihrer Volksgenossen in Siebenbürgen. Die Historiker haben ein Problembewußtsein geschaffen. Dennoch reagieren ungarische Politiker — man will sich schließlich nicht mit der Sowjetunion anlegen, die schützend die Hand über Rumänien hält — sehr zaghaft, wenn es um Rechte der Minderheiten im rumänischen Siebenbürgen geht.

Sicher, die wütenden Ausfälle von Staats- und Parteichef Nikolae Ceausescu gegen Ungarn - er bezeichnete die „Geschichte Siebenbürgens“ als ein „faschistisches, rassistisches und chauvinistisches Werk“, das imperialistische Ziele verfolge - will man sich nicht länger gefallen lassen. Doch hat Ungarn auch kein Interesse an einem „Krieg“ mit Rumänien. Deswegen fielen Politikeräußerungen zu Ceausescus Totalangriff eher mäßigend aus.

Mätyäs Szüros vom außenpolitischen Ausschuß des ungarischen Parlaments meinte zunächst, Ungarn dürfe sich das nicht gefallen lassen und werde zu gegebener Zeit antworten. Und Gyula Horn, Staatssekretär im ungarischen Außenamt, bezeich-

nete die Vorwürfe aus Bukarest, weil sie aus einem sozialistischen Land gekommen seien, als „weitaus schlimmer als das, was imperialistische Kreise auf internationaler Ebene unternehmen“. Das Schicksal von Millionen Ungarn außerhalb der Grenzen des Mutterlandes sei „äußerst bitter“; wenn man sich ihrer annehme, so bedeute das keinesfalls ein „Streben nach einer Revision von Grenzen“.

In diesem Zusammenhang ist die Tatsache interessant, daß sich die ungarische Delegation beim Wiener Folgetreffen der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) unter Botschafter Andre Erdös dem kanadisch-jugoslawischen Vorschlag angeschlossen hat, wonach alle nationalen Minderheiten in Europa mit dem Staatsvolk gleichberechtigt leben sollten.

Für Ungarn, Historiker wie Politiker, ist es ein Anliegen, die Probleme Siebenbürgens — „einer komplizierten nationalen und sozialen Region“ (so Zoltän Szäsz) — klar zu analysieren. Das ist auch erstes Anliegen der „Geschichte Siebenbürgens“, zumal das letzte derartige Werk vor 40 Jahren erschienen ist und die zehnbändige Geschichte Ungarns Siebenbürgen nur peripher Beachtung schenkt.

Außerdem wollte man einen Kontrapunkt zur „sehr einseitigen rumänischen Geschichtsschreibung“ (Szäsz) setzen, die die Magyaren und Sachsen zwar als Ethnikum, nicht aber als Nationalitäten betrachte (was nach den Worten Szäsz „am Rande der Geschichtsfälschung“ stehe).

Die „Geschichte Siebenbürgens“ ist zweifellos ein „marxistisches“ Geschichtswerk; das lag auch in der Absicht der Autoren. „Die Trennlinie verläuft aber heute nicht mehr zwischen marxistischer und bürgerlicher Geschichtsschreibung, sondern zwischen einer romantischen und einer realistischen Geschichtsauffassung“, sagt Zoltän Szäsz.

Und diesbezüglich besteht unter den ungarischen Historikern die berechtigte Angst, daß aufgrund der politischen Kontroverse der tatsächliche Inhalt des dreibändigen Geschichtswerkes, sein analytischer Wert, verschwindet.

Die erste Auflage der „Geschichte Siebenbürgens“ (40.000 Exemplare) war in Ungarn „in wenigen Stunden vergriffen“. Ein Zeichen für die Hellhörigkeit und Sensibilität der Ungarn für Änderungen im wissenschaftlichen Betrieb.

Für Zoltän Szäsz hat die ganze Angelegenheit durchaus positive Seiten: der „politische Zirkus“ könne eine Diskussion zwischen Ungarn und Rumänien einleiten.

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