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Streß wohltätig

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Die Geburt wird meist als durchaus beschwerlicher Vorgang angesehen, nicht nur für die Mutter: Mehrere Stunden hindurch wird das Kind aus dem Mutterleib gepreßt. Während dieses Geschehens muß sein Kopf beachtlichen Druck aushalten. Zeitweise fällt die Sauerstoffversorgung aus. Und schließlich landet das Kind - aus warmer, dun-

kler Geborgenheit kommend — in einem relativ kühlen, grell beleuchteten Spitalsraum.

Während des Geburtsvorgangs produziert das Kind beachtliche Mengen der Streßhormone Adrenalin und Noradrenalin, und zwar in vergleichsweise größerer Menge als seine gebärende Mutter.

Im allgemeinen haben diese beiden Hormone beim Erwachsenen die Aufgabe, in Gefahrensituationen den Organismus auf eine angemessene Reaktion vorzubereiten: auf Kampf oder Flucht. Werden sie über längere Perioden im Körper ausgeschüttet, ohne daß sie durch körperliche Anstrengungen „abgearbeitet“ werden, so entsteht ein chronischer Pseudo-Alarmzustand mit negativen Folgen.

Im Verlauf einer normalen Geburt jedoch kommt den Hormonen, wie langjährige Untersuchungen von Hugo Lagercrantz und Theodor Slotkin zeigen, eine wichtige positive Rolle zu. So tragen sie entscheidend dazu bei, daß das Kind mit dem Sauerstoffmangel während der Geburt überhaupt zurecht kommt.

Verantwortlich dafür ist das Noradrenalin, dessen Anteil im Vergleich zur Streßauslösung bei Erwachsenen sehr hoch liegt. Dieses Hormon sorgt nämlich dafür, daß sich das Blut ungleich im Organismus verteilt und auf die lebenswichtigen Organe konzentriert: Herz, Hirn, Nebenniere; während der Rest des Körpers unterversorgt bleibt.

Diese Veränderung erhöht den Blutdruck und verringert die Herztätigkeit, was wiederum den Sauerstoffverbrauch des Körpers deutlich reduziert. Auf diese Weise übersteht das Kind die sauerstoffarme Periode des Geburts vorganges. Das Kind kommt damit besser mit Sauerstoffmangel zurecht als der erwachsene Mensch. Bei diesem treten schon nach ganz wenigen Minuten des Luftmangels unregelmäßige Herzschläge auf.

Darüber hinaus helfen die Hormone mit, daß die Lungen des Neugeborenen frei werden, und sie begünstigen ganz allgemein das Überleben außerhalb des Mutterleibes: Die normale Lungen- und Zellatmung wird in Gang gesetzt, und manche Forscher vermuten sogar, daß die Bindung des Kindes an die Mutter hormonell begünstigt sein könnte.

Auf die vorteilhafte Wirkung der Hormone für die Phase nach der Geburt hat die Beobachtung von Säuglingen nach einem Kaiserschnitt Hinweise geliefert. Bei diesen werden nämlich — trotz der geringeren Herausforderung — überdurchschnittlich oft Atemschwierigkeiten festgestellt.

Zwei Gründe sind dafür ausschlaggebend: Zum einen wird die Lungenflüssigkeit weniger gut als nach einer normalen Geburt aufgesaugt; zum anderen wird weniger von einer seifigen Flüssigkeit produziert, die dafür sorgt, daß die Lungenbläschen offenbleiben. Beides wird von vorhergehender Hormonausschüttung gefördert und begünstigt das Atmen.

Ausgelöst wird die Hormonausschüttung unmittelbar durch den Druck auf den Schädel des Kindes. Bei Erwachsenen hingegen werden ähnliche Reaktionen hingegen von den Nervenzentren gesteuert.

Insgesamt bewirken die Hormone also, daß Kinder gut mit dem Geburtsstreß zurechtkommen und daß ihre Umstellung auf die neuen Lebensverhältnisse besser vonstatten geht. Das geschieht nicht zuletzt dadurch, daß die Hormone auch die Umstellung des kindlichen Stoffwechsels nach dem Durchtrennen der Nabelschnur fördern.

Eltern können also durchaus beruhigt sein: Kinder leiden bei der Geburt weitaus weniger als allgemein angenommen wird. Das zeigen nicht zuletzt die Fotos von Neugeborenen, die ebenfalls am Karolinska Institut in Stockholm gemacht wurden: überwiegend angeregte, heitere kleine Gesichter.

Näheres dazu siehe ..Scientific American" 4/86: „The .Stress' of Being Born“.

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