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„Streunen ist nicht strafbar“

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Die letzte Ausgabe der Vierteljahreszeitschrift des Osterreichischen Bundesjugendringes, „report", befaßt sich mit „Jugend und Recht in Österreich". In ihr beschäftigt sich in einer eingehenden Analyse Dr. Sepp Schindler, Dozent für Entwicklungspsychologie und forensische Psychologie an der Universität Salzburg, mit der Jugendkriminalität, deren Fehldeutung in der Öffentlichkeit er klarstellt:

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Die letzte Ausgabe der Vierteljahreszeitschrift des Osterreichischen Bundesjugendringes, „report", befaßt sich mit „Jugend und Recht in Österreich". In ihr beschäftigt sich in einer eingehenden Analyse Dr. Sepp Schindler, Dozent für Entwicklungspsychologie und forensische Psychologie an der Universität Salzburg, mit der Jugendkriminalität, deren Fehldeutung in der Öffentlichkeit er klarstellt:

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Viele der als abwegig („deviant") angesehenen Verhaltensweisen Jugendlicher wie Lärmen, Umherstreunen, Arbeitsplatzwechsel in größerer Zahl sind wohl für die meisten Erwachsenen störend, sie stellen aber noch keinen Verstoß gegen strafrechtliche Normen dar. Wohl aber können sie mitunter Ausdruck der geringen Integration eines jungen Menschen in unsere stark leistungsorientierte Gesells(äiaft sein. Aber selbst dies muß keineswegs immer zutrefen. Überdies sind diese Verhaltensweisen nur mit großen Schwierigkeiten genauer erfaßbar. Dennoch kann bereits ein derartiges Verhalten, das in den Vereinigten Staaten unter den Begriff „Delinquent" subsumiert wird und ifi Österreich dazu führt, daß der Jugendliche als „verwahrlosungs-gefährdet" bezeichnet wird, zu so schwerwiegenden Konsequenzen wie einer Heimeinweisung führen.

Der Begriff der „Kriminalität" ist demgegenüber enger und umfaßt nur Verhaltensweisen, für die im Strafgesetzbuch eine Bestrafung angedroht ist.

Erhebliche Unsicherheiten ergeben sich allerdings aus der Zahl der unentdeckten Rechtsbrüche, aus Schwankungen in der Relation der aufgeklärten zu den verübten Verbrechen und aus Fällen, in denen es nicht zur Verurteilung des Angeklagten gekommen ist. Daher können die absoluten Zahlen der Kriminalstatistik nur mit großen Vorbehalten interpretiert werden.

In der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre hat ein starker Anstieg der Zahl der verurteilten Jugendlichen (mehr als 11.000 pro Jahr) und auch der Verurteiltenzahlen (bis auf 2700) die Öffentlichkeit beunruhigt. Im vergangenen Jahrzehnt ist sowohl die Zahl der verurteilten Jugendlichen (1967: zirka 8000) wie auch die Ver-urteiltenzahl wieder erheblich gesunken. Letztere ist seit 1963 mit zirka 2100 verurteilten je 100.000 in Österreich lebenden Jugendlichen praktisch gleichgeblieben.

Da sich an den einschlägigen Rechtsnormen und am System der vorbeugenden Maßnahmen der Jugendwohlfahrtspflege in den sech-

ziger Jahren in Österreich kaum etwas geändert hat, ist diese Entwicklung offensichtlich darauf zurückzuführen, daß die nunmehr strafmündig gewordenen Jugend-

lichen im allgemeinen unter günstigeren Bedingungen aufgewachsen und weniger gefährdet sind, strafbare Handlungen zu begehen.

Im gleichen Zeitraum hat sich auch der Anteil der bereits vorbestraften Jugendlichen an allen verurteilten Jugendlichen nach einem Anstieg in den fünfziger Jahren wieder verringert. Das besagt, daß die Zahl der Jugendlichen geringer wird, die immer wieder neue Straftaten begehen. Dem entspricht, daß noch nie so wenig Jugendliche in geschlossenen Anstalten der Justizmrwal-

tung (Strafhaft und Bundesanstalten für Erziehungsbedürftige) angehalten sind, wie 1970.

Neben der geringeren Gefährdung der in den fünfziger Jahren geborenen und nunmehr strafmündig gewordenen Generation ist dies offensichtlich auf die Wirksamkeit der im vergangenen Jahrzehnt durch die Bewährungshilfe besonders intensivierten Betreuung in Freiheit zurückzuführen.

Dennoch gibt es jeweils etwa 300

bis 500 Jugendliche, die immer wieder Straftaten begehen und bei denen es bei Belassung in Freiheit offensichtlich nicht möglich ist, dies zu ändern. Viele Angehörige dieser Gruppe verüben auch als Erwachsene immer wieder erhebliche Straftaten. Gerade für sie fehlen aber in Österreich die institutionellen Möglichkeiten für eine echte Hilfe zur sozialen Eingliederung. Die vorwiegend auf Anhaltung (— Bewahrung) und Berufsausbildung (= Leistungstraining) ausgerichteten Anstalten können diese Aufgabe nur in gerin-

gem Maße bewältigen. Neben den Jugendlichen, die einmalige, besonders schwerwiegende Straftaten setzen (vorsätzliche Tötungen, Raub, schwere Sexualdelikte) sind es aber gerade die mehrfach Rückfälligen, die gemeint sind, wenn in der Öffentlichkeit, in Massenmedien von „Jugendkriminalität" die Rede ist.

Aber nicht einmal jeder zehnte verurteilte Jugendliche gehört zu einer dieser beiden Gruppen. Völlig falsch wäre es daher, in jedem durch ein Gericht verurteilten Jugendlichen bereits den potentiellen „Verbrecher" zu sehen. Diese keineswegs seltene Einstellung wird unter anderem dadurch gefördert, daß die meisten Jugendlichen wegen der gleichen Delikte verurteilt werden: Kraftfahrzeugdiebstähle, Einbrüche und Körperverletzungen.

Wenn sich nun etwa die Zahl der wegen „unechter Notzucht" (§ 127 StG) und Schändung (§ 128 StG.) verurteilten Ju/gendlichen innerhalb von drei Jahren (zwischen 1964 und 1967) um zwei Drittel (von 351 auf 129) verringert hat, so kann man doch kaum annehmen, daß die sexuellen Probleme der Jugendlichen sich so sehr geändert hätten. Wohl aber ist die Einstellung der Öffentlichkeit in sexuellen Fragen liberaler und toleranter geworden.

Wenn nachzuweisen ist, daß in unterprivilegierten, vielfach auch diskriminierten Gruppen mehr Delikte begangen, oder zumindest Täter erwischt werden, wenn sich zeigen läßt, daß im Kriege geborene Knaben gefährdeter sind, straffällig zu werden, so ist damit der Zusammenhang zwischen Jugendkriminalität und Gesellschaftsstruktur beziehungsweise Vorgängen im Ganzen der Sozietät deutlich gemacht.

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