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Stunde der Ekstase

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Semana Santa 1982. Erst seit sieben Monaten bin ich in Spanien. Uber Guadix und Granada kehren wir von einem kleinen Fischerdorf an der Mittelmeerküste nach Madrid zurück. Stille, unermeßliche Weite und ein hoher Himmel. Wir haben fast vergessen, daß bis vor kurzem an die zweihundert Dörfer Andalusiens im Hungerstreik standen und das Elend sich in einer machtvollen Manifestation von Hunderttausenden Landarbeitern gezeigt hat.

Wir fahren durch jahrtausendealtes Kulturland; in die archaisch strenge, ja brutale Landschaft integrieren sich scheinbar natürlich Dörfer und agrarisch genutztes Land. Jaen. Jaen, weithin angekündigt durch den riesigen Komplex einer arabischen Burg- und Festungsanlage, liegt umgeben von Hügel- und Bergland, zwischen endlosen Olivenhainen, die, in Reih und Glied gepflanzt, sich dem Auge als rhythmische Schraffur.als laufendes Streifenmuster einprägen.

Bisher haben wir in allen größeren Orten die Plakatankündigungen der Osterf eierlichkeiten gesehen, aber ich habe noch keine der berühmten Prozessionen miterlebt, weder in einer Kleinstadt noch gar in Sevilla.

Es ist Mittwoch abends, als wir in Jaen ankommen; die Straßen sind weitgehend menschenleer, zertretene rote Nelken ziehen sich wie eine Blutspur durch die Stadt, Sessel säumen die großen Straßen, und baldachinüberspannte Tribünen allenthalben markieren offenbar Stationen. In der Nacht wachen wir durch vermeintliches Donnergrollen auf; der Wind trägt Stimmengewirr und fernen Gesang in Fetzen zu unserer Terrassentür herein. Es vermittelt mir ein ähnliches Gefühl, wie ich es als Kind hatte, wenn ich mir die Nacht im Wirtshaus im Spessart vorstellte.

Als wir am nächsten Morgen die alte Pension verlassen, geht es zu wie in der vorweihnachtlichen Einkaufszeit. Aber nicht das Gedränge und Geschiebe sind auf f äl-lig, ganz seltsam berührt die Verkleidung, die Kinder und Erwachsene tragen: weiße, rote, grüne, schwarze Kutten, und am Kopf oder noch unterm Arm die dazu-passenden spitzen Hüte. „Stanitzel”, mit Tuch überzogen, unter dem auch Gesicht und Nacken vollständig verhüllt sind; nur für die Augen sind Löcher ausgeschnitten. Mein erster Gedanke ist: Kukluxklan; meine zweite Assoziation trifft die Sache schon eher, verdeutlicht aber nicht mehr; ich erinner mich alter Darstellungen der inquisitorischen Schauprozesse.

Wir frühstücken in einer Bar, aus der Musikbox klingt Punk-Musik und spanische Prozessionsmusik, ein Vorgeschmack auf kommende Ereignisse.

Als wir wieder auf die Straße treten, haben die Zuschauer sich schon postiert, Lichtmaste, Denkmäler und unfertige Neubauten erklettert, die Tribünen gefüllt. Balkone und Erker borden über, und doch fühle ich mich mit meinen Kameras fehl am Platz, obwohl er günstig gewählt ist und wir von einem Geländer aus die leicht abschüssige Hauptstraße ganz überblicken können. Nicht Ungeduld, sondern steigende Spannung verursacht Kribbeln. Da, alles versucht noch zu wachsen, erhebt sich auf die Zehenspitzen, reckt die Hälse - sie kommen!

Am unteren Ende der Straße schiebt sich ein erster Troß um die Biegung, und gleichzeitig setzen zwanzig bis dreißig Trommler und Trompeter ein, dumpf und gewalttätig ist der Rhythmus der Trommelschläge und -wirbel, grell und verletzend sind die Fanfaren der Trompeten. Es rinnt mir kalt den Rücken hinunter und steigt heiß wieder hinauf, und ich erinnere mich des nächtlichen Donnergrollens. Im Takt der Musik wankt eine gigantische Statue, flankiert von Hunderten Kerzen, um die Ecke: der erste „paso”. Noch nehme ich nicht viel aus, aber ich weiß, sie wankt im Schritt der Träger, die, von einer bis zum Boden hängenden Schabracke verdeckt, die schwere Last stundenlang durch die Straßen schleppen werden; Buße und Ehre liegen hier so eng beieinander, daß sie nicht mehr zu trennen sind.

Schleppend und nach vielen kleinen Pausen kommen sie näher. Der Prunk des „paso” ist unbeschreiblich, noch jede Quaste des die Madonnenstatue schützenden Baldachins ist goldgewirkt, und die gleichen Leute, die noch eine Woche zuvor bei den kommunistischen Demonstrationen mitgegangen sind, greifen danach, um wenigstens diese zu küssen. Nelken regnen von den Baikonen, und immer wieder brausen Beifall und Jubel durch die Straße. Noch vor kurzem war es ein Gründonnerstag-Morgen für mich, nun ist es eine verkehrte Walpurgisnacht. Eine Unterscheidung in Akteure und Zuschauer wäre falsch: ganz gleichgültig, ob sie das Rauchfaß oder den Trommelschlegel schwingen, schwere Eisenketten oder -kugeln an den Füßen hinter sich nachschleifen, sich geißeln, Kreuze schleppen oder sich bloß zu beiden Seiten der Prozession drängen - nur in den jeweiligen Rollen lassen sie sich unterscheiden.

Gaffer sind so unvorstellbar wie bei den klassischen griechischen Tragödienspielen; Heulen und Zähneknirschen herrscht in Sevilla, wenn die Prozessionen mit der „virgen”, der Muttergottes, mit der des gekreuzigten Christus einander in den Straßen begegnen. Kathartische Anfälle? Alles geht danach wieder seinen gewohnten Gang, als hätte man einen riesigen Deckel auf einen Vulkan gelegt. Ritus, Kult, Kultur verschmelzen zu einem sieben Tage dauernden hysterischen Taumel, der nur noch in den spanischen Stierfesten — wie etwa in

Soria oder Medinaceli — eine Entsprechung findet. Nichts an diesem Vergleich ist blasphemisch, hat doch die Tötung des Stiers, der danach in einem Festmahl von allen verzehrt wird, mythisch religiösen Hintergrund.

Ostern ist wohl auch ein Symbol .Spaniens: niederdrückendes Leid und sich aufbäumender Stolz prägen nicht nur klischeehaft das Bild dieses Landes; im besonderen Maß haben sie für Andalusien ihre Gültigkeit behalten. So ambivalent und allgemein die Bedeutung ist, so ambivalent und allgemein ist auch die Beteiligung: alle Schichten, politischen Richtungen, alle Altersgruppen sind vertreten.

Drei Tage lang waren wir damals in Jaen, und wir waren auch bei der großen Vormittagsprozession des Karfreitag, die gegen halb zwei Uhr nachmittags endete. Danach versammelten sich die Erschöpften in den Bars und labten sich mit Wein und Bier, mit Fleischspießchen, Gam-bas, und Landwurst und Schinken, um nach diesem Aperitif zum häuslichen Familientisch heimzukehren. Um drei Uhr war es völlig ausgestorben in den Straßen, nichts war zu hören; flirrende Hitze stieg vom Asphalt auf, eine Menge magerer Hunde streunte herum, nur unter unseren Schuhen schmatzte es bei jedem Schritt; das Wachs von Tausenden Kerzerf bedeckte den Boden.

Wir stiegen hinauf zur arabischen Burg. In der Stille lag Jaen fern, ungreifbar, unbegreiflich unter uns wie eine Einbildung.

Obschon im Laufe der Jahre die Eindrücke verschwimmen und verblassen, die Ergriffenheit und Verstörung angesichts der damaligen Ereignisse läßt sich nicht leugnen und bleibt — eigenartig — als Sehnsucht eines Paria in der Erinnerung haften. Ein Bild jedoch hat sich mir eingeprägt. Ronda: ich stand in der Dämmerung auf der Brücke über der Schlucht, und aus den Gassen tönte Trommel- und Trompetenklang; die Schlucht war tiefviolett, der Himmel leuchtend gelb und rot, die Farben der spanischen Fahne; und um das Maß voll zu machen, erschien der Abendstern.

Der Autor war Lektor für Germanistik an der Universität Complutense in Madrid.

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