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Stunde der Wahrheit

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Ist New-York-City zahlungsunfähig? Bahnt sich eine Kette finanzieller Zusammenbrüche amerikanischer Städte und Bundesstaaten an? Eine geplante Überbrückungshilfe wird die Stadt bis Ende des Jahres zwar über Wasser halten können. Aber die Kräfte, die so einer halben Lösung entgegenstehen, sind sehr stark, so daß es zumindest fraglich ist, woher die Stadtverwaltung 900 Millionen Dollar herzaubern wird, um Zinsen, Schuldverschreibungen und anderes zu bezahlen. Daß die Stadt am 7. September nicht bereits bankrott wurde, daß sie in der Lage war, Gehälter und Löhne auszuzahlen und die bereits ausgesandten Schecks an Arbeitslose und Empfänger von Sozialleistungen decken konnte, das verdankt die Administration ihren Freunden in den Reihen der Gewerkschaften, die aus den Pensionskassen 100 Millionen Dollar vorschössen. Ein finanzieller Zusammenbruch der Stadt würde die Kassen dieser Institutionen sowieso geleert haben.

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Ist New-York-City zahlungsunfähig? Bahnt sich eine Kette finanzieller Zusammenbrüche amerikanischer Städte und Bundesstaaten an? Eine geplante Überbrückungshilfe wird die Stadt bis Ende des Jahres zwar über Wasser halten können. Aber die Kräfte, die so einer halben Lösung entgegenstehen, sind sehr stark, so daß es zumindest fraglich ist, woher die Stadtverwaltung 900 Millionen Dollar herzaubern wird, um Zinsen, Schuldverschreibungen und anderes zu bezahlen. Daß die Stadt am 7. September nicht bereits bankrott wurde, daß sie in der Lage war, Gehälter und Löhne auszuzahlen und die bereits ausgesandten Schecks an Arbeitslose und Empfänger von Sozialleistungen decken konnte, das verdankt die Administration ihren Freunden in den Reihen der Gewerkschaften, die aus den Pensionskassen 100 Millionen Dollar vorschössen. Ein finanzieller Zusammenbruch der Stadt würde die Kassen dieser Institutionen sowieso geleert haben.

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Die finanzielle Misere New Yorks ist alt und chronisch. Nur, daß man sich lange mit buchhalterischen und anderen Tricks über die bittere Wahrheit hinweggeschwindelt hat. Man hat Gelder, die erst für das nächste Jahr erwartet wurden, ausgezahlt und Schuldverschreibungen auf Steuereinnahmen ausgegeben, die dann infolge der Rezession und anderer Faktoren nicht einliefen. Während jede Gesellschaft, die auf dem Kapitalmarkt Kredit sucht, dem Anleger ihre Bilanz vorlegen muß, hat die Stadt New York durch Jahre ihre tatsächliche Verschuldung verschleiert. Erst jetzt, unter dem Druck der allgemeinen Empörung, mußte der Offenbarungseid geleistet werden: die Stadt New York ist mit 3.3 Milliarden Dollar im Defizit, sie schuldet rund 12 Milliarden Dollar. Die Praxis, ein Loch zu stopfen, indem man ein anderes aufreißt, ist nicht mehr gängig, weil bereits zu viele Löcher klaffen. Bürgermeister Beam steht vor dem Zusammenbruch, jeher kleine, unscheinbare Mann aus den Reihen der „Demokraten“, den man gewählt hatte, weil er relativ unpolitisch zu sein schien und weil ihm der Ruf eines guten Buchhalters vorausging. Er war unter Bürgermeister Lindsay „Kon-trollor“ der Stadt, scheiterte an seiner eigenen Blässe und seiner Unfähigkeit, mit den wachsenden Krisen fertig zu werden.

Weder individuelle Anleger noch Banken noch andere große Institutionen wollen weiterhin Schuldscheine oder Anleihen der Stadt kaufen. Präsident Ford weigerte sich, zu helfen, weil er als höchste Bundesinstanz für Belange der Bundesstaaten und der Länder nicht zuständig ist. (Politische Überlegungen mögen hier gleichfalls eine Rolle spielen.) Das Land, das heißt: der Bundesstaat New York, fürchtete seinerseits um seine Bonität und versuchte sich zunächst aus diesem Marasmus herauszuhalten. Es schien anfänglich, als ob man die Frage: „New York pleite?“ mit einem Schulterzucken beantworten wolle. Das würde eben allen korrupten und dilettantisch geführten Stadtverwaltungen als Denkzettel dienen — eine heilsame Lehre. Daß im Lager der „Republikaner“ Schadenfreude herrscht — sind doch fast alle Großstädte politische Domäne der Demokraten — ist nach allem, was politisch in den letzten Jahren geschehen ist, nicht unverständlich.

Aber allmählich begann es auch dem Lager der politischen Gegner zu dämmern, daß eine Nichtzahlung von Zinsen oder die Unfähigkeit, Anleihen am Fälligkeitstag abzulösen, der Autoritätsverlust einer Munizipalität wie New York, Schockwellen derartigen Ausmaßes ausstrahlen muß, daß das gesamte finanzielle Gebäude das Landes dadurch zum Einsturz gebracht werden kann. Wohl genoß New York als Schuldner schon immer einen schlechten Ruf. Aber warum sollten Detroit, Chikago oder Los Angeles bessere Risken sein, Großstädte, die mit ähnlichen Problemen ringen? Der Kollaps New Yorks auf den Fersen einer tiefen Rezession droht daher, eine Depression historischen Ausmaßes auszulösen.

Zunächst versuchte daher der Notenbankpräsident Bums, zu beruhigen. Er ließ durchblicken, daß die Banken, die New Yorker Anleihen kaufen, von der Notenbank schadlos gehalten würden.

Die Banken blieben aber skeptisch. Durch eine 50 flüchtig hingeworfene Bemerkung läßt sich eine erschütterte Kreditwürdigkeit nicht wieder herstellen. Überdies befürchten die New Yorker Banken ein Trommelfeuer von Pro.zessen zu Schaden gekommener Klienten und ihre eigenen Portefeuilles sind mit New Yorker Anleihen schon vollgestopft. Was man bei den Banken sehen will, ist ein Wirtschaften im Rahmen der realen Einnahmen, und da man der Beam-Administration nicht abnimmt, daß sie selbst ihr Haus in Ordnung zu bringen imstande ist, drängte man auf eine Entmachtung des Bürgermeisters und seiner Helfer, was die finanzielle Gebarung betrifft. Beam reagierte, in die Ecke gedrängt, mit der Entlassung von tausenden Angestellten. Er entließ Polizisten, Feuerwehrleute und Mitglieder des Sanitätsdienstes (der Müllabfuhr). Nicht entlassen wurden jedoch Angehörige der überdimensionierten, unproduktiven Stadtbürokratie. Da die Sparten des öffentlichen Dienstes, gemessen an dem grassierenden Verbrecherunwesen und den sanitären Mängeln, unterbesetzt sind, kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, daß sich Beam auf seine Art rächen wollte: Kein Geld ... keine Leistung! Von seinen politischen „Spezis“ wollte er sich jedoch nicht trennen.

Nun brandete eine Welle der Entrüstung gegen den an sich ruhig und nach außenhin unpolitisch wirkenden Bürgermeister und seine Helfer aus der Demokratischen Partei. Sie riefen schließlich den anfänglich distanzierten Gouverneur des Staates, das Oberhaupt der Demokraten im Staat New York, Carey, auf den Plan, der auch prompt seinen Parteigenossen Beam, den er an und für sich nicht sehr schätzte, fallen ließ.

Die Entmachtung des Bürgermeisters begann mit der Bildung einer Finanzgesellschaft: MAC (Municipal Assistance Organisation), der die

Aufgabe obliegt, auf dem Kapitalmarkt Anleihen aufzunehmen. Da die Stadt bei den Kreditoren ihre Kreditwürdigkeit verloren hatte, hielt man MAC für ein besseres Aushängeschild. Erstens haben in der MAC Banken Sitz und Stimme und damit Einfluß auf die finanziellen Agenden der Stadt. Weiters hat der Staat New York dominierenden Einfluß gewonnen. Er ist es, der für die Anleihen der MAC gutsteht. Diese Anleihen sollen durch bestimmte Steuern gedeckt werden (Umsatzsteuer und Börsenumsatzsteuer), und nicht wie bisher durch das schwindende Vertrauen in die Bonität der Stadt. Eine unpolitische, technokratisch . geleitete Frontorganisation sollte das Vertrauen der Anleger wieder wecken. Mit Ach und Krach gelang es der MAC, 2 Milliarden Dollar zu borgen, dann aber überwog bei den Anlegern auch gegenüber der MAC die Skepsis. Man hatte mit 2 bis 3 weiteren Dollarmilliarden durch die MAC gerechnet.

Das Ausbleiben dieser Summe stürzte New York nun in die Super-krise, die im Augenblick die Gesetzgeber des Staates New York in Albany beschäftigt. Die Maßnahmen, die in Albany gesetzt werden, um New York zumindest bis zum Jahresende über Wasser zu halten, werden mit Sicherheit zu einer völligen Entmachtung des vom Volke gewählten Bürgermeisters führen und damit zum Verlust der politischen Autonomie der größten Stadt der USA. Wenn die Gesetzgeber des Staates ein Paket von 2 bis 3 Milliarden Dollar für die Stadt beschließen, so um den Preis der völligen finanziellen Unterordnung der Stadt unter die Autorität des Staates, der Banken und anderer unpolitischer Einflüsse. Sie hoffen damit, den Kapitalmarkt für die finanziellen Ansprüche der Stadt wieder zu öffnen und sie hoffen natürlich auch auf ein Ansteigen des- Steueraufkommens durch die wirtschaftliche Erholung, deren Ansätze erkennbar sind. Strikteste Einhaltung der Budgetgrenzen soll dann die Kreditwürdigkeit wieder herstellen.

Die Gegner des Plans weisen auf seinen bloß temporären Charakter hin, aber vor dem tatsächlichen Zusammenbruch hat doch jeder Angst.

Wie war es aber überhaupt möglich, daß es soweit kommen mußte? Was liegt am Grunde der Urbanen Krise, für die New York bloß das krasseste Beispiel darstellt?

Man wird diese Erklärung selten lesen, weil die Initiatoren der soeben gescheiterten Politik vielfach auch die Medien und die Öffentliche Meinung geistig stark beeinflussen, oder, anders ausgedrückt, „Erfüllungspolitiker“ und Beherrscher der linksintellektuellen Medien gehören einer einzigen Familie an! Aber die Pleite New Yorks ist die Pleite der Wohlfahrtsstaats-Politik schlechthin.

Es Ist das Scheitern der gleichen, oder verwandter Ideen und Maßnahmen, die den Sozialismus skandinavischer oder Wiener Prägung charakterisieren; die Parallelen verdienen daher, sorgfältig studiert zu werden.

Es ist der Zusammenbruch einer Politik, die politische Loyalität durch finanziell ungedeckte Sozialleistungen erkauft hat und zugleich eine Umschichtung der sozialen Struktur — eine totale Nivellierung

— anstrebt. Geschieht das in Europa durch Sozialleistungen überdimensionalen Ausmaßes, so geschah es in New York durch das Anlocken vieler hunderttausender Farbiger aus Puertorico und aus dem Süden des Landes, denen man hier in New York das Paradies verhieß; zumin-dest aber höhere Sozialleistungen als im Süden. Sie zogen in Quartiere, die menschenunwürdig waren, oder sie verwandelten neue, von der Stadt finanzierte Wohnviertel in Slums und trieben breite Schichten der weißen Bevölkerung aus der Stadt. Unkontrollierbares Verbrecherunwesen, krasses Absinken des Unterrichtsniveaus in den öffentlichen Schulen der Stadt und die Verpestung der Atmosphäre trugen zusätzlich dazu bei, daß der Exodus der Weißen — vor allem des arbeitsfreudigen Mittelstandes — aus New York solche Dimensionen angenommen hat, daß er durch den Zustrom der sehr geburtenfreudigen Schwarzen nicht mehr kompensiert werden kann. Gegenüber 1970 war New York im Jahr 1973 um über 3 Prozent geringer bevölkert, Chikago um 6, Detroit um fast 9, Min-neapolis um 12 Prozent, St. Louis um über 10, Los Angeles um 3 Prozent. Dabei hat sich dieser Trend seit 1973 noch verstärkt. Mit den Weißen flohen aber auch wichtige Industrien in die Vorstädte und die ländlichen Gebiete, so daß eine krasse Diskrepanz zwischen jenem Teil der Bevölkerung entstand, der die Einnahmen der Städte aufbringt und jenem; der sie konsumiert und wenig zu ihrer Mehrung beiträgt.

Politische Loyalität erkauft man sich auch durch Zahlung hoher Löhne. Das Durchschnittseinkommen eines Angestellten der Privatindustrie beläuft sich auf 10.000 Dollar pro Jahr, die Stadt zahlt 13.000 Dollar. Von einer Gesamtausgabensumme von 12 Milliarden Dollar pro Jähr zahlt die Stadt 3 Milliarden an Sozialrentenempfänger. Es gibt Fälle — und nur die krassesten finden den Weg in die Presse —, in denen eine farbige Frau nicht bloß für ihre vielen unehelichen Kinder Rente bezog, sondern auch für ihre Katzen und Hunde, die, mit einem menschlichen Vornamen versehen, in die Listen der Rentenempfänger aufgenommen worden waren. Wer wollte auch, oder getraute sich schon, in den Slums Kontrollen durchzuführen?

Daß die Gewerkschaften den Bürgermeister unterstützten, versteht sich von selbst. Sie erzielen Jahr um Jahr Erfolge bei Lohn- und Gehältsverhandlungen, dafür liefern sie die Stimmen am Wahltag.

Was jedoch übersehen wurde,' ist die Tatsache, daß der Krug so lange zum Brunnen geht, bis er bricht. Während die Städte in .Europa im wesentlichen - „autoritär“ finanziert werden — irgendwo muß das Geld ja herkommen, wenn nicht anders, so vom Bund —, sind die Munizipalitäten in den USA dem Votum,des Kapitalmarktes ausgesetzt. Wenn die Investoren keine Anleihen kaufen, müssen die Munizipalitäten im Rahmen ihrer Einnahmen wirtschaften, oder Konkurs ansagen. Das ist der berühmte „Moment of truth“, an dem man heute angelangt ist.

Wahrscheinlich ist die Lage der Weltmacht USA zu prekär — wirtschaftlich und außenpolitisch —, als daß sie sich den finanziellen Zusammenbruch New Yorks leisten könnte. Aber die letzten Monate und Wochen haben auch dem auf der Empfangseite dieses bankrotten Systems Stehenden klargemacht, daß letzten Endes jeder verliert — und ein gewisser Abstrom von Puertoricanern aus den Slums des Nordens ist festzustellen. .

Wie jedoch die Urbanen Probleme langfristig gelöst werden können, bleibt eine offene Frage. Politische Ambitionen und die Angst vor der Explosion der Slums bleiben Faktoren, die den Krankheitsherd immer wieder virulent machen werden. Die Städte sind das Krebsgeschwür der amerikanischen Demokratie, eine Methode, das Geschwür zu heilen, wurde noch nicht, gefunden.

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