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Stunde der Wahrheit

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Nach mehr als sechs Jahren sehr zäher Verhandlungen schlägt für die Wiener Truppenabbaugespräche zwischen 12 NATO-Staaten und sieben Vertretern des Warschauer Paktes im kommenden Monat die Stunde der Wahrheit. Wenn sich die Delegierten nach einer längeren Weihnachtspause am 31. Jänner im Wiener Redoutensaal zur 20. Konferenzrunde zusammenfinden werden, liegen erstmals zwei konkrete Vorschläge auf dem Tisch, die in einem einigermaßen realistischen Verhältnis zueinander stehen - was bei früheren Angeboten und Gegenangeboten nicht der Fall war, die eher in die Kategorie der Eröffnung einer Pokerrunde fielen.

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Nach mehr als sechs Jahren sehr zäher Verhandlungen schlägt für die Wiener Truppenabbaugespräche zwischen 12 NATO-Staaten und sieben Vertretern des Warschauer Paktes im kommenden Monat die Stunde der Wahrheit. Wenn sich die Delegierten nach einer längeren Weihnachtspause am 31. Jänner im Wiener Redoutensaal zur 20. Konferenzrunde zusammenfinden werden, liegen erstmals zwei konkrete Vorschläge auf dem Tisch, die in einem einigermaßen realistischen Verhältnis zueinander stehen - was bei früheren Angeboten und Gegenangeboten nicht der Fall war, die eher in die Kategorie der Eröffnung einer Pokerrunde fielen.

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Die grundsätzlichen Positionen und Widersprüche sind allerdings noch immer die gleichen. Die Warschauer-Pakt-Staaten vertreten die Ansicht, in Mitteleuropa bestehe bereits ein militärisches Gleichgewicht. Beide Seiten hätten daher ihre Truppen im gleichen Maß entweder absolut oder prozentuell zu reduzieren, damit weder Ost noch West einseitig Vorteile haben.

Der Westen hingegen spricht von einem militärischen Ubergewicht des Ostens: rund 775.000 NATO-Truppen standen 925.000 Mann der Warschauer-Pakt-Armeen gegenüber. Aufgabe der Gespräche ist es daher in der Sicht der NATO-Staaten, ein Gleichgewicht herzustellen.

Im Frühjahr 1978 glaubten Beobachter erstmals eine gewisse Auflok-kerung der starren Positionen feststellen zu können. Am 19. April schlug die NATO dem Warschauer Pakt vor, für den Abzug einer sowjetischen Gardepanzerarmee und der DDR mit 68.000 Mann und 17.000 Panzern ihrerseits 29.000 amerikanische Soldaten, 90 Atomwaffenträger und 1000 Nuklearsprengköpfe zurückzunehmen.

Die Warschauer-Palrt-Staaten antworteten am 8. Juni und 30. November 1978 sowie am 28. Juni vergangenen Jahres mit einer Reihe von Gegenvorschlägen, die Vorerst wie eine radikale Änderung der östlichen Po-

„Unter diesen Umständen muß es bereits als Erfolg gewertet werden, daß Ost und West fest entschlossen sind, die Wiener Gespräche termingemäß wieder aufzunehmen."

sition anmuteten. Diese Änderung bezog sich auf einen teilweisen Verzicht auf nationale Höchstgrenzen innerhalb der Truppenverbände beider Seiten und ein Eingehen auf die westliche Forderung, die Reduzierung auf Bodentruppen zu beschränken.

Darüber hinaus war der Osten bereit, seine Truppenstärke um 105.000 Mann zu reduzieren, während der Westen nur 91.000 Mann hätte abbauen müssen, um eine gemeinsame Höchstgrenze von 700.000 Mann (900.000 mit Luftwaffe) zu erreichen.

Optimistische Beobachter, die nunmehr mit einem zügigen Ver-handlungsverlauf gerechnet hatten, wurden jedoch enttäuscht Beide Seiten verzettelten sich in fruchtlosen Debatten über die sogenannte Datenfrage: das ist die Frage, wie viele Truppen sich eigentlich in Mitteleuropa befänden. Die Konferenz drohte auf ihren Ausgangspunkt zurückzu-rutschen.

Zu jenem Zeitpunkt verlegten sich Ost und West auf publikumswirksame Gesten ohne direkten Bezug auf die Wiener Truppenabbaugespräche.

Am 6. Oktober vergangenen Jahres erklärte sich der sowjetische Partei-und Regierungsschef Leonid Breschnew anläßlich eines Besuches in Ost-Berlin bereit, ohne Gegenleistung von seiten der NATO innerhalb der folgenden 12 Monate 20.000 So-wjetarmisten, 1000 Tanks und eine Anzahl militärischer Systeme aus der DDR zurückzuziehen.

Am 5. November konterte die NATO mit einer Erklärung über den bevorstehenden Abtransport von 1000 Nuklearsprengköpfen aus Europa.

Indessen arbeitete der NATO-Rat an einer konkreten Antwort auf die sowjetischen Vorschläge vom 8. Juni und 30. November 1978 und deren Ergänzung vom 28. Juni 1979. Am 20. Dezember wurden die westlichen Vorschläge endlich der Wiener Konferenz präsentiert. Was den Umfang der vom Westen angeregten Truppenreduzierung betraf, so kam dieser den sowjetischen Vorstellungen recht nahe. Allerdings machte die NATO dieses Entgegenkommen von einer Einigung in der umstrittenen Datenfrage abhängig.

Bei der nächsten Zusammenkunft am 31. Jänner und bei den folgenden Treffen wird es sich zeigen, ob es den beiden Seiten gelingt, die noch bestehenden Gegensätze zu überbrük-ken. Bedauerlicherweise hat sich aber das Ost-West-Klima in der Zwischenzeit beträchtlich verschlechtert. Der Osten protestierte heftig gegen den Beschluß der NATO, zusätzlich etwa 500 Mittelstreckenraketen in Europa zu installieren, und weigerte sich gleichzeitig, über dieses Thema mit dem Westen zu verhandeln. Und als ob dies noch nicht genug wäre, droht nach dem Einmarsch sowjetischer Truppen in Afghanistan eine neue Eiszeit den Entspannungsprozeß zwischen Ost und West zu lähmen.

Unter diesen Umständen muß es bereits als Erfolg gewertet werden, daß Ost und West fest entschlossen sind, die Wiener Gespräche termingemäß wiederaufzunehmen. Mit welchem Erfolg, wird sich bald zeigen.

Dipl.-Dolm. Dr. Sigrid Pöllinger ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Friedensforschung der Universität Wien.

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