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Stunde des neuen Weins

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Mitte November durchläuft die Erde das Sternbild der Plejaden. Die Erdatmosphäre kühlt binnen weniger Tage entscheidend ab, und Niederschlag tritt ein. Es beginnt die kalte Zeit. „Wohl dem, der jetzt noch Heimat hat...“ Das Jahr geht zu Ende. Seine Früchte können geprüft werden.

Im neuen Wein spiegelt sich das vergangene Jahr. Er ist die Antwort auf die Frage: wie war es? Denn Jahre kommen und gehen. Eins ums andere fällt wie Laub und wird zu Humus für die Zukunft. Doch keins ist wie das andere. Wenn wir ab Martini den neuen Wein verkosten, denn von diesem Zeitpunkt an gilt er als Heuriger, und wenn unsere Sinne wach sind und unsere Neugier lebendig ist, teilt sich uns der unerschöpfliche Nuancenreichtum des Lebens mit. Denn die Faktoren von Qualität und Charakter des Weines sind immer anders gemischt.

Kaum ist die Lese vorbei, spricht man unter Kennern und Liebhabern über die zu erwartenden Weine. Wird es große Weine geben? Denn so wie in der jagdlichen Fachsprache ein Rehbock oder Hirsch nicht schön genannt wird, sondern kapital, womit der Akzent auf das Haupt und die Trophäe gesetzt wird, so ist ein Wein für den Kenner nicht einfach nur gut, sondern groß. Das verweist auf Räumlichkeit, Entfaltung und Weite, und regt die Fantasie an.

Während sich in den Weingärten das Laub verfärbt und nach den ersten Nachtfrösten leise raschelnd zu Boden sinkt, stürmt der Wein in den Kellern. Von der Sturmzeit an wird seine Entwicklung durch wöchentliches Verkosten überprüft. Die Fässer müssen regelmäßig und sorgfältig ausgefüllt werden. Denn während der Hauptgärung, die ungefähr eine Woche dauert, braucht der Wein einen Gärraum von zehn Prozent. Ist diese Phase heftiger Veränderung abgeklungen und der Wein ruhiger geworden, wird der freie Raum „rauh“ aufgefüllt, das heißt der Wein muß mit dem Finger gerade noch erreichbar sein. Lufteinwirkung schadet nämlich dem Geschmack, kann ihn sogar ganz verderben.

Ist die Gärung restlos zu Ende, wird der Wein abgezogen. Er wird vom Geläger, das aus Hefe und anderen Trübstoffen besteht, getrennt. Darauf klärt er sich rasch und ist nur noch leicht staubig. Der Staubige wird durch Filtern geklärt Und dann ist der Wein fertig.

Fertig, nicht vollendet. Nun laden die Weinhauer einander in ihre Keller zur Verkostung ein. Das ist kein Anlaß der Geselligkeit, sondern ein ruhiges und ernstes Prüfen, das mit Konzentration und großer Sorgfalt durchgeführt wird. Der Besitzer entnimmt dem Faß mit dem gläsernen Heber eine Probe und füllt davon eine kleine Menge in jedes Glas. Es kommt nun nicht darauf an, den Wein in seinem Gesamteindruck zu erfassen, sondern ihn mit den Sinnesorganen zu analysieren, seine Qualitätsmerkmale und auch seine eventuellen Mängel festzustellen.

Zuerst hebt man das Glas schräg gegen das Licht und prüft Farbe und Klarheit. Dann führt man es mit langsam kreisenden Bewegungen zur Nase, um die Reintönigkeit des Duftes, die Intensität des Buketts wahrzunehmen. Nun nimmt man einen kleinen Schluck, läßt ihn über Zunge und Gaumen rollen, um ihm alle Geschmacksmerkmale zu entlok-ken. Es sieht aus, als würde man den Wein kauen.

Während dieses Vorganges beobachtet der Produzent gespannt die Gesichter der Verkoster, denen er seine Weine zur Beurteilung anvertraut hat. So geht man von Faß zu Faß, kostet zuerst die kleinen Weine und zuletzt die großen, die Weine mit Zukunft, mit Ausbaufähigkeit, die erst im Lauf der Zeit ihre volle Höhe und Reife erreichen werden.

Diese erste Verkostung vor den Fässern im Kreis der Kenner ist bei aller ernsten Sachlichkeit auch ein ritueller Vorgang, mit dem wir der Wertschätzung Ausdruck geben, die wir dem Wein in seiner Bedeutung für unsere Kultur und Lebensqualität entgegenbringen.

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