7036022-1989_49_01.jpg
Digital In Arbeit

Sturm und Drang

Werbung
Werbung
Werbung

In Europa ist alles ins Wanken geraten. Ganze Blöcke stürzen ein. Der Sturm-Gipfel auf der „Maxim Gorki“ in Malta hat das Geschehen den Vertretern der Supermächte physisch wie psychisch nahegebracht.

Die Präsidenten George Bush und Michail Gorbatschow müssen von liebgewordenen, in anderen Zeiten entwickelten Konzepten Abschied nehmen; und sie haben das allem Anschein nach auch getan.

Bewußt hat sich der eine vom Kalten Krieg losgesagt und der andere dies jetzt auch verbal akzeptiert. Als Notare der Weltpolitik beglaubigten sie auf schwankendem Boden, was offenkundig ist: Die europäischen Staaten - am sinnfälligsten in der Mitte des Kontinents (der Kommentator des „International Herald Tribüne“, Jackson Diehl, spricht von einer „Entscheidung“ der Ostdeutschen, was sie künftig sein wollen, aber auch der Ungarn, „zu einer neuen Allianz mit Österreich zu kommen“) - finden neu zueinander.

Bush und Gorbatschow machten keine Pläne. Dieses Nicht-Ergebnis des Gipfels ist auch etwas, selbst wenn man wie die Bonner konservative Zeitung „Die Welt“ beklagt, daß sich beide „am Ende des Gipfels auffallend bedeckt“ hielten.

Festzuhalten ist das Prinzip der Nichteinmischung in die europäischen Umwälzungen (weder stoppen noch forcieren), die Absage an die politische Bipolarität (Überwindung rein militärstrategischer Politik), die vereinbarte Wirtschaftshilfe für die UdSSR (bisher von den USA kaum ins Auge gefaßt) und die Bereitschaft zur Abrüstung (weil mit schwindendem Mißtrauen auch das gegenseitige Niederrüsten obsolet wird).

Klug ist die Entscheidung der USA, angesichts der darniederliegenden kommunistischen Staaten nicht in Triumphgeheul auszubrechen. Das Selbstwertgefühl des einstigen Gegners und künftigen

Partners soll nicht verletzt werden: eine den Frieden sichernde Geste.

Was die Neuordnung Europas betrifft, setzte Gorbatschow bei dem Gipfel - wie schon vor zwei Wochen an dieser Stelle vermutet - verstärkt auf den Helsinki-Prozeß. Seinem Vorschlageines KSZE-Gipfels liegt die Philosophie zugrunde, daß „die Zeit des Alleingangs von zwei Mächtigen vorbei“ ist (Neue Zürcher Zeitung).

Parallel zu den Genfer START-Verhandlungen, bei denen eine Reduzierung des strategischen Atomwaffenarsenals um 50 Prozent in greifbare Nähe gerückt ist, hoffen die Supermächte auf ein rasches erstes Abkommen der Verhandlungen für konventionelle Streitkräfte in Europa (VKSE, sogenannte 23er Gespräche der paktgebundenen Staaten) im kommenden Jahr. Nach Gorbatschows Plan könnte dieses Abkommen auf höchster Ebene in Wien unterzeichnet werden.

Der Kremlchef hat in Italien und beim Gipfel auch über eine 35er Konferenz (also aller KSZE-Staaten) laut nachgedacht. Die raschen Veränderungen rechtfertigten seiner Meinung nach eine KSZE-Gesamtversammlung (wobei das nächste Folgetreffen erst 1992 in Helsinki stattfindet). Nach Ansicht des österreichischen Delegationsleiters bei den Verhandlungen über Vertrauens- und Sicherheitsbildende Maßnahmen (WSM, an denen alle 35 KSZE-Staaten teilnehmen), Botschafter Martin Vukovich, sei klar, daß das Folgetreffen von 1992 nicht vorverlegt werde. Es handle sich also um ein KSZE-Gipfeltreffen, das Helsinki einleiten könnte.

Was aus dem KSZE-Prozeß wird, ist momentan schwer zu sagen. Vukovich meint, man könne das ausgehandelte Folgeprogramm nur schwer ändern, obwohl Teile davon bereits „obsolet geworden“ seien.

Die reale Entwicklung hat vieles vom KSZE-Prozeß überholt. Nach den Worten Vukovichs wäre es jetzt an der Zeit, künftige Aufgaben zu definieren: „Im Bereich der Menschenrechte sind die Ost-West-Gegensätze im wesentlichen überwunden und werden noch überwunden werden, wenn sich Rechtsstaatlichkeit und Demokratie in den Reformländern durchsetzen.“

Auch im Bereich der militärischen Sicherheit hätten sich die Dinge geändert und eilten dem Helsinki-Prozeß voraus. Vukovich: „Es herrscht größere Offenheit, weniger Geheimniskrämerei; alles das beflügelt. Das Bedrohungsgefühl ist dermaßen zurückgegangen, daß sich die Bevölkerung fragt, warum nicht das erste 23er Abkommen schon längst unterzeichnet ist.“

In Osteuropas Reformländern hat das Volk die Macht übernommen. Das Vertrauen der 35 KSZE-Staaten untereinander ist stark gestiegen, sodaß es - wie Vukovich meint - ganz andere Formen der Kooperation geben könnte. Zunächst gelte es abzusichern, was bisher erreicht wurde, um Rückfälle zu vermeiden; dann seien neue Vorschläge für Kooperationsmaßnahmen zu erstellen; beispielsweise im Bereich des „stark vernachläßigten Korbes II“, in dem es um wirtschaftlichwissenschaftliche Zusammenarbeit zwischen Ost- und Westeuropa geht.

Österreich selbst plädiert für eine baldige Konferenz auf politischer Ebene. Einige KSZE-Staaten wollen aber kein Treffen der Außenminister, weil man außer Phrasen davon (noch) wenig erwartet.

Wahrscheinlich wird es also auf höchster Ebene in der zweiten Jahreshälfte 1990 ein KSZE-Gipfeltreffen in Wien geben. Die Wahl wird wohl auch deswegen auf Wien fallen, weil sich alle entscheidenden politischen Veränderungen zur Zeit hauptsächlich in Mitteleuropa abspielen.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung