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Südamerika im Aufbruch

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Während in Europa und in den USA noch der Bestseller des Franzosen J. F. Revel reichlich zirkuliert, wonach die nächste Revolution nicht aus der Dritten Welt und aus einem kommunistischen Land, sondern aus Amerika kommt, stellt der Autor dieses Budies fest, daß entscheidende Impulse zum jetzigen Umsturz in Lateinamerika aus Rom kamen. Von Johannes XXIII., vom Vatikanischen Konzil, von päpstlichen Enzykliken wie „Populorum Progressio“. Ausländische Geistliche, insbesonders solche, die an europäischen Hochschulen studiert haben, brachten die Wende.

Der Schweizer Lorenz Stucki (früher Chefredakteur der „Welt“) analysiert in den 14 Kapiteln seines Buches nicht nur die von der Katholischen Kirche ausgegangene „Verunsicherung“. Mit der Instinktsicherheit des routinierten Publizisten zeigt er jedoch die sensationellen Kehren und Wendungen auf, mit denen in Lateinamerika Katholiken mit Unterstützung namhafter Kreise der offiziellen Kirche den Umschwung herbeiführen, indem sie in neuartigen Formationen der Volksfront zusammen mit Kommunisten und Sozialisten aller Schattierungen mehrheitsbildend wirkten. So überrascht es nicht, wenn der letzte christlich- demokratische Präsident Chiles, Vorgänger des ersten zum Staatsoberhaupt gewählten Marxisten, in Erinnerung an das, was 1917 in Rußland geschah, der „Kerensky Chiles“ genannt wird. Daß dieser Tage auch in Uruguay eine Volksfront der Christlichdemokraten, Sozialisten und Kommunisten zusammentrat, konnte der Autor noch nicht wissen. Für künftige Entwicklungen in

Europa mag interessant sein, was der Autor über die von Land zu Land verschiedene Förderung der Linksentwicklung durch Gruppen der Katholischen Aktion, Kreise katholischer Hochschüler und jener Teile der katholischen Publizistik schreibt, die wie das in Chile erscheinende Monatsorgan der Jesuiten offen die „neuen Erfahrungen“ unterstützen und dem marxistischen Gedankengut mit Offenheit gegenüberstehen.

Die aus Sorge und Zuversicht gemischten Zukunftsaussichten des Autors sind nach all dem konfus. Da, von zwei oder drei Staaten abgesehen, die parlamentarische Demokratie in Lateinamerika noch kein taugliches Vehikel ist, möchte Stucki sein Vertrauen in die Technokraten setzen, in ein autoritäres Regime (das allerdings nicht totalitär sein dürfte) und in eine moralische Kontrolle dieses Experiments durch die Aktivitäten gewisser Bischöfe und Priester, Entwicklungshelfer, Geschäftsleute und auch Studenten, die in der Ära des jetzigen Überganges wenigstens die intelligente Planung und deren fortschrittliche

Ausführung zum Wohl der Massen mit unter Kontrolle halten könnten. Auf die Tatsache, daß nach dem Ende des „politischen Katholizismus“ in Europa in Lateinamerika Geistliche neuerdings in politischen Parteien aktiv tätig sind, daß dieses moderne Politchristentum „einige Verwirrung unter Priestern und Gläubigen“ angerichtet hat und daß gerade nach der eingetretenen Wende im Katholizismus der Priesternachwuchs vielfach ausbleibt, geht der Autor weniger ein. Was vom lateinamerikanischen Katholizismus übrig bleibt, ist für den Schweizer Liberalen so etwas wie ein Stecken, den der Fortschritt auf der nächsten Wegstrecke benutzt, solange er brauchbar ist.

KONTINENT IM AUFBRUCH, SÜDAMERIKA AUF DEM WEG INS 21. JAHRHUNDERT. Von Lorenz Stucki. Scherz-Verlag, Bern, 1971, 319 Seiten, Preis sFr. 26.—.

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