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Südamerika: Schulden und Hunger

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Mehrere Dutzend Tote in der Dominikanischen Republik bei der Niederschlagung von Hungerkrawallen, geplünderte Supermärkte in Brasilien, Großstädte, in denen Unruhen, Raub und Totschlag für Lebensmittel zunehmen - das ist die Bilanz von Wirtschaftskrise, Schulden und Sparmaßnahmen in den lateinamerikanischen Ländern, die einen guten Teil des jungen Mittelstandes zu Armen macht: zu Armen, die nicht wie das große Heer der Slumbewohner längst gelernt haben, aus Nichts ein elendes Uberleben zu machen.

Vor diesem Hintergrund forderten Ende Mai vier lateinamerikanische Länder - Mexiko, Brasilien, Argentinien und Kolumbien — ihre internationalen Gläubiger auf, die Zinssätze zu reduzieren, um nicht in die „Zahlungsunfähigkeit gezwungen zu werden". Die vier Länder schulden gemeinsam 233 Milliarden Dollar. Mexiko alleine müßte heuer 900 Millionen an zusätzlichen Zinsen hinblättern, weil die US-Zinsen wieder gestiegen sind ...

Kaum war das Kommunique unterzeichnet, stellte Bolivien alle seine Zahlungen ein, was die prekäre Lage der Schuldnerländer unterstreicht.

Der ausgesandte Hilferuf der Vier als Draufgabe auf die Forderung der Quito-Tagung vom Jänner, die jährlichen Schuldenzahlungen an einen „vernünftigen Prozentsatz" der Exportgewinne zu binden, ließ das Schlagwort vom „Schuldnerkartell" entstehen.

Anfang Juni erfolgte die prompte Antwort des Gläubigerclubs auf das Schreckgespenst eines solchen Kartells. Der Weltwährungsfonds und die amerikanische Bundesbank (die USA sind der größte Gläubiger) erarbeiteten die sogenannte „Philadelphia-Formel": zwar Umschuldung und niedrigere Zinsen, aber keineswegs Verhandlungen mit einem „Schuldnerkartell", sondern nur mit einzelnen Ländern. Und natürlich nur mit solchen, die sich durch strikte Befolgung der Auflagen des Währungsfonds und bei Überwachung diese Behandlung auch verdienen. An letzterer Bedingung ließ Ronald Reagan beim Wirtschaftsgipfel in London keinen Zweifel.

Mexiko soll sofort in den Genuß der „Philadelphia-Formel" gelangen, Brasilien wurde dies in Aussicht gestellt (worauf hartnäckige Gerüchte, auch Brasilia würde die Zahlungen einstellen, offiziell dementiert wurden).

Argentinien, dessen Wirtschaftsteam schon den Stoff für die Jänner-Forderung der Rückzahlungskoppelung an die Exportgewinne geliefert hatte, reagierte auf die „Philadelphia-Formel" hingegen radikal: Mit dem Gewicht der Zustimmung aller wichtigen Parteien — auch mit der der Peronisten! — legte die Regierung des gewählten Zivilpräsidenten Raoul Alfonsin dem Weltwährungsfonds eine „Absichtserklärung" vor, die nicht mit dem in Buenos Aires anwesenden Krisenteam des Fonds abgesprochen worden war.

Wie stark die Erklärung von dem abweicht, was das Fondsteam aushandeln sollte, und wie hart die Auflagen des Fonds für die Schuldner sind, sei nur an zwei Zahlen aus dem Brief belegt: Der Fonds wollte eine Reallohnkürzung von 20 Prozent, der argenti-nischeBriefforderteineReallohn-erhöhung von 6 bis 8 Prozent; der Fonds verlangt eine Beschränkung des Budgetdefizits auf 9 Prozent des Bruttonationalpro-duktes, Argentinien will bis 12,5 Prozent gehen.

Dies — ein geteiltes Lager in „Brave" wie Mexiko und Brasilien sowie „Neutrale" wie Venezuela, die ihre Angelegenheiten bereits geregelt haben oder sie wie

die Dominikanische Republik regeln wollen, auf der einen und „Aufmüpfige" wie Argentinien, Bolivien und Kolumbien (das übrigens wegen seiner großen Reserven noch nicht zu den Katastrophenfällen zählt!) auf der anderen Seite — ist die Situation, in der einander Vertreter von neun Schuldnerländer vergangene Woche in der kolumbianischen Hafenstadt Carthagena trafen.

Der Gipfel wurde notwendig, weil die Atempause nach dem Schuldenschock von 1982 und den folgenden Umschuldungen zu kurz war.

Der erwartete Aufschwung ist nicht eingetreten, die Volkswirtschaften schrumpften 1983 je nach Land zwischen 3,3 und 12 Prozent. Die wirtschaftliche Erholung in den Vereinigten Staaten hat sich viel zuwenig auf Importe aus Lateinamerika ausgewirkt. Das neuerliche Ansteigen des Zinsniveaus in den USA hat alle Berechnungen und berechtigten Hoffnungen der Lateinamerikaner über den Haufen geworfen.

Die bisherigen Hungerkrawalle zwischen Sao Paulo und Santo Domingo dürften deshalb nur der Anfang sein. Die Wähler wollen ihren Regierungen, die nur noch Opfer ankündigen, nicht mehr folgen.

Bei aller entrüsteten Rhetorik in Carthagena war das Wesentliche die sachliche Diskussion um Zinssenkungen beziehungsweise eine Obergrenzsetzung der jährlichen Schuldenzahlungen durch eine Koppelung an Exportgewinne oder durch einen institutionalisierten Korrekturmechanismus für den Fall steigender internationaler Zinsen; und auch um mehr als die bisherigen drei Freijahre und die Streckung der Rückzahlungen auf zehn und mehr Jahre.

Das „Schuldnerkartell" ist jedenfalls eine Chimäre. Nicht zuletzt die Sonderbehandlung, die Mexiko geboten wurde und Brasilien winkt (dies sind die beiden größten Schuldenbrocken des Subkontinents), drängt das radikale Argentinien ins Abseits. Das muß wohl als wichtiger Erfolg des internationalen Finanzsystems gewertet werden.

Übrigens sind Staatsbankrotte (fünf Milliarden Dollar, die Bolivien schuldet, bedrohen die internationale Bankenwelt nicht) keine Neuigkeit in der lateinamerikanischen Geschichte. Bis jetzt konnten sie immer ausgependelt werden.

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