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Südtirol: Neu und anders

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Wir Südtiroler können in Hoffnung leben und Hoffnung geben. Dies beweisen die Ergebnisse der Volkszählung von 1981. Im Vergleich zur Zählung von 1971 ist der Anteil der deutschen und ladini-schen Südtiroler an der Gesamtbevölkerung um 3,93 % gewachsen und beträgt jetzt 70,62 %, während die Italiener nur mehr 29,38 % der Bevölkerung ausmachen.

In absoluten Zahlen ausgedrückt: Die deutsche Volksgruppe hat von 1971 bis 1981 um 19.225 auf 279.576 Personen zugenommen, die ladinische um 2223 auf 17.739. Die Zahl der in Südtirol ansässigen Italiener ist dagegen um 14.049 auf 123.716 gesunken.

Unser Todesmarsch ist gestoppt. Wir sind aus dem dunklen Tunnel der letzten sechs Jahrzehnte herausgekommen. Sicher wird unsere Fahrt auf den Straßen der Zukunft noch manche Staubwolken aufwirbeln. Aber sie werden uns nicht ersticken.

Die zahlenmäßige Stärkung der tirolischen Volksgruppen (Deutsche und Ladiner) ist vor allem wichtig als Ausdruck eines „gesunden Gewichts", das auch wesentliche andere Wurzeln hat. 1945 waren wir Tiroler des südlichen Landesteils ein gesellschaftlich teilweise amputierter Volkskörper: Wir waren beschränkt auf Landwirtschaft, Handel und Gewerbe. Dies war das Ergebnis der faschistischen Politik, welche die Südtiroler aus einigen Berufssparten — öffentlicher Dienst, Eisenbahn, Post, Industrie — ausschaltete.

Im Zuge von Option und Abwanderung waren dann noch die meisten Nichtselbständigen bzw. Nichtbesitzenden aus Südtirol entfernt worden. Ein Menschenalter nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges ist dieses Mißverhältnis beseitigt: Die tirolischen Volksgruppen sind heute komplett und modern aufgebaut. Es gibt, was 1940 niemand zu hoffen gewagt hätte, ein Südtiroler Beamtentum, eine Südtiroler Arbeiterschaft, eine Südtiroler Industrie, eine Südtiroler Intelligenz.

Dies bringt auch Folgen mit sich, die manchem zuwider sein mögen, die aber ganz natürlich sind. Die Interessen der Arbeiter decken sich nicht unbedingt mit jenen der Industriellen, häufig auch nicht mit jenen des Fremdenverkehrsgewerbes. Die Bauern haben andere Sorgen und Wünsche als Handel oder Industrie.

Die politische Einigkeit innerhalb der Sammelpartei ist zu einem sehr schwierigen Prozeß geworden. Es geht jetzt darum, vielfältige Interessen und Vorstellungen unter einen Hut zu bringen, vor allem aber Toleranz zu üben.

Die größte Veränderung ist wohl in der akademischen Jugend zu beobachten. Aus den österreichischen und italienischen Universitäten ist eine vielfach recht lebhafte junge Intelligenz heimgekehrt, mit neuen und anderen Ideen.

Der sogenannte Generationenkonflikt, die natürliche Auseinandersetzung zwischen Söhnen und Vätern, führt überall zu Reibungen und Funken. Bei uns, wo ein gewaltiger Rückstau bestanden hat, ist dies im besonderen Maß der Fall. Da wäre es Sache der älteren Generation, mit Geduld, Aufrichtigkeit, vor allem aber mit dem Mut zu selbstkritischer Wahrheit das Gespräch mit den Jungen zu führen.

Zu den Wesensmerkmalen der neuen Generation zählt, daß sie das Geschehen um sich herum viel kritischer betrachtet als wir von der älteren Generation. Sie will hinter die Kulissen schauen. Und die Jugend hat recht. Hinter dem politischen Vorhang muß sie neben vielem Echten leider auch allzuviel Unechtes, zuviel Selbstherrlichkeit, zuviel Selbstgerechtigkeit, zuviel rücksichtsloses Machtstreben sehen ...

Die Bedeutung des Pariser Vertrages wird mit dem Fortschreiten der Jahre und Jahrzehnte immer höher bewertet. Heute ist man sich in Südtirol bewußt, daß ohne dieses Abkommen kein internationales Gremium unseren Klagen und Forderungen seine Aufmerksamkeit gewidmet hätte. Der Architekt des Vertrages, Karl Gruber, hätte sich von den Südtirolern mehr Dank verdient, als sie ihm erwiesen und erweisen. Doch der Dank war nie die Stärke der politischen Prominenz in Tirol...

Wir müssen uns daher selbstkritisch die Frage stellen, ob wir den vielen anderen Minderheiten gegenüber genügend Solidarität bewiesen haben. Was wissen wir von den Volksgruppen in ähnlichen Verhältnissen anderswo? Haben wir je unsere Stimme laut genug erhoben, wenn es um die Rechte anderer Minderheiten gegangen ist, auch um die Rechte der Slowenen und Kroaten in Österreich?...

Wer die eigene Bindung zum deutschen und ladinischen Volkstum bejaht, ist auch verpflichtet, die nationale Andersartigkeit der Italiener in Südtirol zu respektieren.

Die italienische junge Generation in Südtirol wird sich damit abfinden müssen, daß die Vorrechte, welche ihre Väter und Vorväter in diesem Lande genossen haben, gefallen sind. Und die Südtiroler müssen begreifen, daß der Proporz und die Zweisprachigkeit als Voraussetzung für Staatsstellen bei den Italienern einen Schock ausgelöst haben.

Doch dürften die italienischen Jugendlichen nicht übersehen, daß die Pflicht der Zweisprachigkeit auch für sie einen Vorteil bringt. Die der italienischen Sprachgruppe zustehenden

Staatsstellen in Südtirol können ihnen von Konkurrenten aus den anderen Provinzen nicht mehr streitig gemacht werden.

Die Südtiroler müssen schließlich zur Kenntnis nehmen, daß für die hier ansässigen jungen Italiener Südtirol die Heimat ist wie für sie selber. Die neuen Generationen in Südtirol würden guttun, nach dem Motto zu leben: nebeneinander, miteinander, füreinander — aber nicht durcheinander.

,£rlebte Geschichte" nennt der Südtiroler Publizist und Politiker Friedl Volgger seinen Erinnerungsband, aus dem wir hier zitiert haben. Das Werk weist seinen Autor als den aus, der er immer gewesen ist: Demokrat, Tiroler Patriot, Christ — und Widerspruchsgeist, sich selber treu.

Das brachte ihm Konflikte mit dem Nationalsozialismus (KZ Dachau!), mit der italienischen Staatsmacht (Verhaftung 1957), mit Parteifreunden (Toni Ebner löste ihn als ,J)olomiten''-Chefredakteur ab) und anderen Kritikern ein — und macht das Buch doppelt lesenswert. hf

MIT SUDTIROL AM SCHEIDEWEG. Von Friedl Volgger. Haymon-Verlag Innsbruck. 320 S., Ln., öS 285,-.

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