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„Sünder“ der Revolution

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Am 16. Juni 1958 - vor 25 Jahren - wurden Imre Nagy und andere Anführer des ungarischen Volksaufstandes von 1956 hingerichtet. Anlaß genug, die Schicksale von zu „Un- personen" gewordenen osteuropäischen KP-Füh- rern etwas genauer zu durchleuchten.

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Am 16. Juni 1958 - vor 25 Jahren - wurden Imre Nagy und andere Anführer des ungarischen Volksaufstandes von 1956 hingerichtet. Anlaß genug, die Schicksale von zu „Un- personen" gewordenen osteuropäischen KP-Füh- rern etwas genauer zu durchleuchten.

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Wer sind diese „Kinder der Revolution“, die — laut Wolfgang Leonhard — von der „Revolution“ so leichtherzig entlassen werden? Das ist ein großes Thema mit vielen Variationen. Aber vorerst ist an jene zu denken, die in den Tod „entlassen“ wurden, gemäß dem ursprünglichen Wort aus der Zeit der Französischen Revolution, wonach die „Revolution ihre Kinder frißt“.

Es sind dies die Opfer der Macht, diejenigen Personen aus den Reihen der osteuropäischen Kommunisten, die nach dem Machtantritt ihrer Partei von Warschau bis Sofia durch die eigenen Genossen zu „Volksfeinden“ erklärt und auf das Schafott geschickt wurden. Die politische Motivation lieferte die Weltpolitik — aus der trüben Optik des Kremls,der letztenEndesfür alles, was sich nach 1945 in den osteuropäischen Ländern abspielte, die volle Verantwortung trägt.

Stalin rechnete Ende der vierziger Jahren mit einem Krieg zwischen „Ost und West“. In seinen Augen war Marschall Tito, der Jugoslawien nicht zu einem Sowjetsatellit machen wollte, nicht nur ein Ketzer der kommunistischen „ Weltbewegung, sondern auch ein Werkzeug der „Wall Street“.

Es war für Stalin also „logisch“, daß solche Titos auch in den anderen osteuropäischen Ländern vorhanden sein müßten. So wurden nach 1948 die „Säuberungen“ verordnet und bis Stalins Tod 1953 mit großem Eifer durchgeführt. Die Zahl der Opfer in dieser Zeitspanne ist noch heute ein Staatsgeheimnis.

Man kennt in den jeweiligen Ländern nur die „Spitze des Eisberges“, so den Schauprozeß von Sofia 1949, wo Nikola Petkoff vor dem Richter stand; oder von Budapest 1949 mit Läszlo Rajk als Opfer; schließlich von Prag 1952 mit dem Hauptangeklagten Rudolf Slansky. Mit ihnen wurden Hunderte, wenn nicht Tausende von Kommunisten angeklagt und in ähnlichen Schauprozessen, aber meistens in Geheimverfahren, verurteilt. Die Hinrichtungen erfolgten dann unter völligem Ausschluß der Öffentlichkeit.

In jedem Ostblock-Land — Albanien eingeschlossen — lief diese Säuberungswelle. Den Machthabern genügte die bloße Aburteilung aber nicht. Die Delinquenten, durch verschiedene körperliche und seelische Torturen dazu präpariert, mußten sich vor den Richtern selbst erniedrigen. Sie nahmen „Sünden“ auf sich, die sie nicht einmal im Schlaf gewagt hätten zu begehen.

Die Geschichte der blutigen und dramatischen Schauprozesse in den osteuropäischen Volksdemokratien ist noch nicht umfassend beschrieben worden, weder im Westen noch im Osten. Letzteres ist schon deswegen erstaunlich, weil nach Stalins Tod (1953) und im Zuge der von N. S. Chruschtschow vorangetriebenen „Ent- stalinisierung“ zwischen 1955 und 1963 die Schauprozesse (und nicht nur diese) in den Volksdemokratien einer internen Revision unterworfen wurden. Infolge dieser Verfahren hat man die Opfer, soweit sie noch am Leben waren, aus den Kerkern entlassen und ihnen in Form von größeren Geldsummen „Gerechtigkeit“ wiederfahren lassen. Auch die hingerichte- ten Kommunisten wurden — wenn auch nur widerwillig — rehabilitiert.

Eine öffentliche Bestattung der Opfer der Schauprozesse gab es nur in einem Land: in Ungarn. Hier erkämpfte die Witwe des 1949 hingerichteten Läszlo Rajk die feierliche Neubestattung ihres Mannes und seiner ebenfalls hingerichteten Mitkämpfer. Dies geschah am 6. Oktober 1956 in Budapest.

Am 23. Oktober brach dann der Volksaufstand in Ungarn aus. Nur das Eingreifen der Roten Armee am 4. November 1956 rettete das Sowjetsystem in Ungarn vor seinem Niedergang.

Die Verfolgung aller, die sich an dieser spontanen Volkserhebung beteiligt hatten, ließ nicht lange auf sich warten, und das trotz der mehrmaligen und feierlichen Beteuerung des neuen Führungsgremiums, niemanden wegen revolutionärer Tätigkeit vor Gericht stellen zu wollen.

In den folgenden Jahren, eigentlich bis 1961, wurden etwa 100.000 Personen abgeurteilt. Die meisten Prozesse fanden wiederum unter Ausschluß der Öffentlichkeit statt. Besonders hart ging man mit jenen Kommunisten um, die im Oktober-November 1956, als es zwischen Patriotismus und Sowjetismus zu wählen galt, für Ungarn optiert hatten.

Zu den etwa tausend hingerichteten Revolutionären gehörten natürlich die Anführer des Aufstandes. Als Beispiel nennen wir hier nur Imre Nagy. Ihm wurde in aller Öffentlichkeit am 22. November 1956 die Freiheit garantiert. Aber kaum hatte er seinen Asylort, das jugoslawische Botschaftsgebäude in Budapest, verlassen, verhaftete man ihn.

1958 stellten die Machthaber Imre Nagy und seine Gefährten vor ein Gericht. Heute wissen wir: Er hätte sein Leben retten können, wäre er bereit gewesen, seine „Fehler und Versäumnisse“ von 1956 einzugestehen und sich in aller Öffentlichkeit vom Volksaufstand zu distanzieren.

Er tat es nicht, wie auch seine Gefährten ihren Schergen jegliche Zugeständnisse verweigerten. Sie wußten, daß sie damit ihre letzte Chance verspielten.

Am 16. Juni 1958 wurden sie hingerichtet, genau vor 25 Jahren.

Die einzige Lehre, welche die Sowjets aus dem Imre-Nagy-Pro- zeß zogen: Sie sahen ein, daß man mit solchen Methoden nur Märtyrer schuf.

1968 gab es nach der gewaltsamen Niederschlagung des Versuches, in der CSSR einen „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ zu schaffen, im Vergleich zu Ungarn 1956 wenig Prozesse. Gewiß gab es eine Säuberung, und Leute, die in irgendeiner Weise mit dem Prager Frühling zu tun hatten, wurden auf „gesellschaftlicher Ebene“ gemaßregelt. Aber weder gegen Alexander Dubček noch gegen Joseph Smrkovsky oder andere Persönlichkeiten der sozialistischen Erneuerung ging man mit Terrormaßnahmen vor.

Sie wurden ganz einfach mundtot gemacht, teilweise auch brotlos, dann von der Außenwelt isoliert und systematisch ihrer persönlichen Identität beraubt.

Alexander Dubček — gewissermaßen der Imre Nagy der CSSR — erhielt in Preßburg eine kleine Stellung in einer drittrangigen Verwaltung. Vor einigen Monaten hat man ihn nach Erreichung der gesetzlichen Altersgrenze in den Ruhestand versetzt, selbstverständlich mit der Pension eines mittleren Verwaltungsbeamten.

Dubčeks Name — ebenso wie der seines Vorgängers Antonin Novotny — wird heute weder in den Schulbüchern noch in den Geschichtsbüchern der Tschechoslowakei erwähnt. Beide gelten heute in ihrer Heimat als „Unpersonen“. Und wer „Unperson“ ist, soll mit Schweigen umhüllt werden, als ob er nie existiert hätte.

Solche Unpersonen sind heute beinahe alle Parteiführer Osteuropas der ersten Stunde! Beispiele dafür haben wir eine ganze Reihe:

• Walter Ulbricht: Gründer des SED-Staates in Ostdeutschland. 1971 von allen Partei- und Staatsämtern aus Altersgründen zurückgetreten. Am 1. August 1973 in Ost-Berlin verstorben. Es gibt heute über ihn keine Biographie, kein Würdigungswerk. Sein Bild und sein Name kommen sogar in solchen Geschichtswerken nur äußerst selten vor, die sich mit der Gründung des ostdeutschen Staates beschäftigen.

• Mdtyds Rdkosi. Im Juli 1956 als ungarischer KP-Chef abgelöst. Räkosi reiste nach Moskau und blieb dort in der Verbannung bis zu/seinem Tod im Februar 1971. Zwar nahmen ihm seine Genossen im August 1963 das Parteibuch ab, aber andere, rechtliche Verfahren wurden weder gegen ihn noch gegen seinen politischen „Zwillingsbruder“ Ernö Gero, der bis zu seinem Tode im März 1980 unbehelligt in Budapest lebte, eingeleitet.

Und so könnten wir die Liste fortsetzen. Mit Ana Pauker aus Rumänien oder Wylko Tscher- venkoff aus Bulgarien, die beide der Bevölkerung zur Beschwichtigung der Gemüter hingeworfen, aber eigentlich nie zur Rechenschaft gezogen wurden.

Nach alldem sind auch die polnischen Regelungen nicht erstaunlich. Wladyslaw Gomulka wurde zwar nach den Dezember- Unruhen 1970 als Parteichef abgelost, blieb jedoch weiterhin in Warschau. Er hatte nichts mehr zu fürchten und konnte noch als Staatspensionär mit nicht wenig Schadenfreude miterleben, wie sein Nachfolger Edward Gierek 1980 wegen seiner „verfehlten Wirtschaftspolitik“ selbst zur Strecke gebracht wurde.

Was mit Gierek passierte, ist uns noch gut in Erinnerung. Im Dezember 1981 verhaftete man ihn, entließ ihn jedoch aus seinem mit allem Komfort eingerichteten „Kerker“ nach wenigen Monaten. Heute lebt er in Kattowitz in seinem Landhaus, bezieht das übliche Funktionär-Ruhegeld.

Die Lehren aus diesen Beispielen:

Parteichefs können nur unfehlbar sein. Selbst wenn man sie, um die aufgebrachte Bevölkerung zu beschwichtigen, notgedrungen opfert, müssen sie auf ihr persönliches Wohl auf längere Sicht nicht verzichten. Wenn dagegen ein Parteimann sich in erster Linie als Patriot fühlt und dementsprechend im Interesse des Volkes handelt, ist er ein erklärter Feind der Macht und muß physisch oder - wenn „Milde“ walten soll - „nur“ psychisch kaputtgemacht werden.

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