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Süße Pillen für die Ärzte

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Jana Klasova muß zum Augenarzt. Ein grauer Schleier trübt die Sicht. Sie braucht keinen Krankenschein, stattdessen nimmt sie -vorsichtshalber - ein Packerl „MeinT'-Kaffee mit. Weil die Ärzte in der Tschecho-Slowakei, wie überall in Osteuropa, für einen Hungerlohn schuften, müssen die Patienten zusätzlich einen Obulus entrichten. Naturalien (westliche Spezialitäten) werden dabei bevorzugt.

Nach dem Fallen des Eisernen Vorhangs ist Bewegung in den Gesundheitssektor gekommen: Junge Arzte und Krankenschwestern wandern in Scharen nach Österreich, Deutschland und die Schweiz aus. Laut einem Bericht der Tageszeitung „Närodnä Obro-da” übernehmen sie vielfach Arbeiten, „die nicht ihren fachlichen Qualifikationen entsprechen”. Schwester Luba, 28 Jahre alt, geht gerne nachWien. Sie betreut untertags eine bettlägrige alte Dame, bekommt Kost und Quartier und 5.000 Schilling auf die Hand. Sie ist sehr zufrieden. Ihre Kollegin Maria, die noch immer in einem Preßburger Spital arbeitet, versteht sie. Auch wenn ihr Abgang den Personalmangel verschärft. „Es ist schon eine Versuchung: Hier verdiene ich 2.0 0 0 Kronen und in Wien 15.000 Schilling!”, versucht sie zu erklären.

Die tschechische Partei der Kleinunternehmer organisiert den Exodus des Krankenhauspersonals. Die Partei kassiert für jede Vermittlung fünf Prozent des Monatslohnes als Provision. In Form von Devisen, versteht sich. Parteichef Jaroslav Samek verteidigt dieses Vorgehen: Früher habe die staatliche Außenhandelsfirma „Polytech-na” für jede Vermittlung 25 Prozent an Provision und zusätzlich den Eintritt in die KPC gefordert. Aber die Parteioberen geizten damals mit Bewilligungen, jetzt herrscht Reisefreiheit. Martin Bojar, tschechischer Gesundheitsminister, ist böse auf die Kleinunternehmer. Die Massenabwanderung macht ihn nervös. Wenn das so weitergeht, „dann können wir unsere Spitäler gleich zusperren ”. Die Union der Krankenschwestern leistet dem Minister Schützenhilfe: Eine Auslese, nach professionellen und sprachlichen Kriterien, soll den Abgang des Personals zügeln.

Noch liegt die CSFR mit einem Arzt pro 282 Einwohner weltweit im Spitzenfeld. Aber nach einem sechsjährigen Studium und 13 Jahren Praxis verdient ein Neurologe 4.000 Kronen monatlich. Dafür kann er in Österreich einen billigen Fotoapparat kaufen. Ein Jungarzt verdient nur 600 Schillingmonatlich. Die frischgebackene Ärztin Maria Hlädka klagt: „Mein Mann und ich sind beide Ärzte. Doch wir leben an der Armutsgrenze.” Im Gesundheitsministerium trafen in den letzten Monaten bündelweise Protestresolutionen von Ärztekollektiven ein, die sich mit amtlichen Appellen an ihren „Opfergeist” und ihr „Gewissen” nicht länger abspeisen lassen wollen: „Davon haben wir genug gehört!”, schreiben etwa die Poprader Gynäkologen.

Weil das Murren unter den Medizinern immer lauter wird, soll eine teilweise Privatisierung des Sektors Abhilfe schaffen. „Privatärzte in staatlichen Krankenhäusern?” schlagzeilt das Prager Wirtschaftsmagazin „Profit”. Demnach soll es ab 1993 den Ärzten möglich sein, privat in staatlichen Ambulanzen zu ordinieren. Für die Einrichtung einer Praxis - die Grundausstattung würde eine halbe Million Kronen kosten - fehlt einfach das Geld. Viele technische Geräte müssen aus dem Westen importiert werden. Damit keine Eifersucht entsteht, soll jeder Arzt ein paar Stunden die Woche „privat” an seinem staatlichen Arbeitsplatz arbeiten können.

Die Ärzteschaft, als Teil der Intelligenz vom proletarischen KP-Regime finanziell und moralisch vernachlässigt, beginnt sich nun auch unabhängige Vertretungen zu schaffen. Die Kammer der Stroma-tologen machte vorigen März den Anfang, doch die Gesetzeslage ist noch immer unklar.

Die ärztlichen' Körperschaften machen nicht nur Druck zwecks Lohnerhöhungen. Auch die Arbeitsmoral liegt darnieder. Eine Ursache davon liegt in der amtlichen Zuweisung der Ärzte an Betriebe und Wohnviertel. Die freie Arztwahl war unmöglich, die Patienten waren dem „ihrigen” ausgeliefert. Ladislav Kovac ärgert sich: Nun hat er schon zum dritten Mal innerhalb eines halben Jahres die Plombe verloren. Die Zahnärztin des Betriebes behandelt nur den Chef des Betriebes ordentlich. Herr Kovac und seine Kollegen schreiben einen Protestbrief an das Gesundheitsamt. Doch dieses rührt keinen Finger. Durch Vermittlung findet Herr Kovac in Brünn einen Zahnarzt, der ihn „schwarz” behandelt. Dieser will ihm auch gleich eine Brük-ke anfertigen: „Aber das Gold müssen sie schon selber mitbringen!”

In der CSFR gibt es zwar 5.300 Zahntechniker, Amalgam und anderes Material ist hingegen Mangelware. In unserem Nachbarland ist diese Profession auch keine Goldgrube: Zahntechniker verdienen in der CSFR weniger als Krankenschwestern. Die Kommunisten hatten 1953 diesen Berufsstand entmündigt, die Techniker zu „Hilfskräften” der Ärzte degradiert. Als Ausgleich wurden dann äußerst strenge Prüfungsbestimmungen erlassen. Die böhmischen Gebißschnitzer sind also höchstqualifiziert. Auch hier hat der Massenexodus in den Goldenen Westen die Reihen arg gelichtet.

Auch sonst ist die Lage in den Krankenhäusern nicht so rosig, wie sie die Serie „Das Krankenhaus am Rande der Stadt” vorgaukelte. Die technische Ausrüstung ist veraltet, 40 Prozent der Betten befinden sich in Gebäuden, die weder sanierbar noch modernisierbar sind.

Besonders viel Kopfzerbrechen macht derzeit die sinkende Versorgung mit Medikamenten. Sogleicht zum Beispiel die Arzneifabrik „Slo-vakofarm” einem abbruchreifen Haus.

Professor Rastislav Dzürik, ein weltbekannter Fachmann für klinische Pharmakologie, gab sich neulich nach einem Kontrollgang „zutiefst erschrocken”. Er könne sich nicht vorstellen „wie in einer solchen Umgebung Medikamente erzeugt werden können”. Das Sortiment mußte schon drastisch reduziert werden, für Innovationen hat man kein Geld.

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