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Suizid nicht verurteilen

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Selbstmord: Hat sich auch hier die Bewertung geändert? Gibt es noch Gründe, Selbstmord unbedingt abzulehnen? Im folgenden zwei verschiedene Standpunkte.

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Selbstmord: Hat sich auch hier die Bewertung geändert? Gibt es noch Gründe, Selbstmord unbedingt abzulehnen? Im folgenden zwei verschiedene Standpunkte.

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Was versteht Harry Kuitert unter Selbstmord?

Ich beschränke mich hier auf die Feststellung, daß sich selbst absichtlich in den Tod begeben ein Akt von Suizid ist... Hier geht es mir um die Feststellung, daß Suizid Suizid ist und daß die Motive und Absichten—wie wichtig sie auch für normative Urteile sein mögen—daran nichts ab- und

zutun... Nicht ohne Grund habe ich den Terminus Selbstmord vermieden, weil es ein beschreibender Begriff ist, der zugleich eine Beurteilung—in diesem Fall eine Verurteilung — beinhaltet... Selbsttötung ist das nicht, ebensowenig Suizid... (S. 18ff)

Warum aber nicht urteilen!

Das moralische Urteil, das in dem Terminus Selbstmord ausgedrückt wird, ist gewissermaßen das Urteil einer bestimmten Gruppe. Es kann aber ein Zeitpunkt kommen, wo eine Gruppe oder ein einzelnes Glied in der... Bevölkerung zu zweifeln beginnt und sich fragt, ob das Urteil, daß Suizid zu allen Zeiten eine gräßliche Wahnsinnstat ist, wirklich Bestand haben kann... (S. 25)

Und die Folgen des Wertens?

(Dann) wird aus einem Gespräch in einer pluralen Gesellschaft nichts: Menschen werden aneinander vorbeileben, jeder in seinem Getto, oder die Repression wird zeigen, woran sich jeder halten muß... (S. 25)

Argumentiert die heutige Theologie zu sehr mit dem Glauben?

Ja, und dies auf Kosten der Argumentationen aus der Pflicht zur Selbstliebe und den Verpflichtungen gegenüber der Gesellschaft ... „Es darf nicht sein um Gottes willen“, ist eine Aussage, die nichts sagt, wenn wir nicht die Gründe hinzufügen können, warum es von Gott aus nicht sein darf. Wenn wir aber die Gründe betrachten, die angeführt werden, dann kommen wir zu dem Schluß, daß sie... sehr anfechtbar (sind) ... „Wir gehören nicht uns selbst, sondern Gott“ — Warum folgt daraus, daß Selbstmord niemals erlaubt ist und das Töten anderer unter bestimmten Umständen doch... ? (S. 55f)

Soll der Christ also nicht vom Glauben her argumentieren?

Das Gespräch wird — durch Konzentration auf das religiöse Argument — zu einem Gespräch allein zwischen Gläubigen. Wer nicht glaubt, nimmt aber kein Glaubensargument an; Konzentration auf die religiöse Argumentation schüeßt also die Nichtgläubigen aus... (S. 56)

Ist Wille zum Leben nicht eine allgemeine Erscheinung?

Die meisten Menschen wollen das Leben lieber nicht verlieren.

Es kann natürlich jemand auftauchen, der das doch will, und dann habe ich nichts dagegen vorzubringen außer, daß ich es unbegreiflich finde oder schade, aber dabei bleibt es dann. Empirische Verallgemeinerung bedeutet nicht, daß man nicht anders werten darf ....(S. 98)

Ist Leben also nicht unbedingt zu schützen?

Das Verbot zu töten ist sinnvoll, insoweit wir dabei das Leben anderer vor Augen haben... Wir gehen davon aus, daß der andere so ist wie wir... Bei Suizid aber brauchen, ja können wir davon nicht ausgehen. Ein Suizidant hat ja zu erkennen gegeben, daß er nicht (mehr) leben will. Die Probleme der Praxis, daß ein Suizidversuch häufig ein Schrei um Hilfe und gerade kein Todeswunsch ist, lasse ich an dieser Stelle außerhalb der Betrachtung... (S. 100)

Gibt es eine ,J?flicht zu leben“?

Unter „Pflicht zu leben“ verstehe ich die Pflicht eines jeden, der lebt, weiterzuleben. Ich nenne dies eine heimliche Pflicht, weil sie nirgends mit Worten ausgesprochen wird und doch die gesamte Argumentation des klassischen Neins gegen Suizid bestimmt. Würde es sie nicht geben, dann wäre der Suizidant frei, sich selbst zu überlegen, ob sein Leben noch der Mühe wert wäre (S. 101)

Und was sagt die Heilige Schrift dazu?

Wenn man sich für die These, daß ein Mensch niemals gute Gründe haben kann, sich zu töten,auf die Bibel berufen will, dann muß man einräumen, daß sich das aus den Suizidgeschichten nicht ableiten läßt... Auch im Neuen Testament finden wir keinen Hinweis auf die Verurteüung des Suizids ... Wie müssen wir den Tod Jesu im Kontext sehen? Ist Jesus der Prototyp des Suizidanten? Es gibt Autoren, die das meinen... (S. 113f)

Selbstmord wird als Eingriff in die Vorsehung verstanden. Zu Recht?

Aber wann ist Gottes Zeit? Wenn wir selbst nicht ausmachen dürfen, wann das ist, sind wir zu reiner Passivität verurteilt. Es

wäre uns nicht erlaubt, einem

fallenden Baum auszuweichen. .. Wiederum kommen wir dazu, daß Christen wohl von Gottes Plan sprechen, aber daß dies niemals bedeutet, daß Menschen dadurch ihrer Verantwortung für ihre Taten enthoben sind... (S. 119)

Darf man das Leben, ein Geschenk Gottes, wegwerfen?

... ein Geschenk annehmen müssen, auch wenn wir nichts mehr von dem Geschenkcharakter in unserem Leben fühlen. Es würde bedeuten, daß das Geschenk uns als Geschenk aufgezwungen wird... Ich halte mich daran, daß das Leben für Christen — und nicht nur für sie — als ein Geschenk gut, das sie von Gott empfangen haben, aber daß diese Erkenntnis sie nicht verpflichtet, es noch für ein Geschenk zu halten, wenn es das für sie nicht mehr ist (S. 120)

Was bleibt also vom Glauben her zu sagen?

Für alle Christen tragen Bibel und christliche Tradition... den Charakter des Evangeliums, der Botschaft der Freude. Von diesem „legitimen“ Gesichtspunkt aus ist die Frage nicht: Welches Urteil muß über Suizidanten gefällt werden, sondern: Welches zu-kunftseröffnende Evangelium hat die christliche Tradition allen Menschen zu bieten, auch Suizidanten? (S. 122)

Gibt es also gute Gründe für Selbstmord?

Die These, daß ein Mensch niemals gute Gründe für einen Suizid haben kann, war. eine unhaltbare These ..AS. 131)

Und die Mitmenschen?

Suizid bedeutet, anderen Unrecht tun, indem ihnen das Recht auf mein Leben genommen wird. Unrecht ist jedoch nicht immer aufzuheben, Suizid nicht immer zu vermeiden. Der moralische Druck auf den Suizidanten ist darum wohl erlaubt, aber er hat seine Grenzen... Jemand kann auf unerlaubte Art seiner Freiheit zur Selbsttötung beraubt werden... (S. 143ff)

Auszüge aus DAS FALSCHE URTEIL UBER DEN SUIZID. Von Harry Kuitert. Kreuz Verlag Stuttgart 1986, 200 Seiten, öS 193,50. Die kursiv in den Text eingefügten Fragen dienen der Aufbereitung des Textes und wurden von der Redaktion verfaßt.

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