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„Superföderation" Europa

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FURCHE: Europa steht in einer Zeitenwende. In welcher Weise hat sich durch die Veränderungen in Osteuropa Ihr Europabild gewandelt?

JEANNE HERSCH: Tatsächlich ist es nicht mehr dasselbe Europa. Bis jetzt bestand die Tragödie Europas aus seiner Zerrissenheit in zwei völlig verschiedene Lebensweisen. Die Unterdrückung des östlichen Europas hatte - jedenfalls bei mir - ein Unbehagen ausgelöst. Man war außerstande, den Europäern im Osten zu helfen. Krieg und Gewaltanwendung waren natürlich ausgeschlossen.

Die Schnelligkeit, mit der die Veränderung jetzt stattgefunden hat, ist unglaublich. Ich hatte es nicht für möglich gehalten, die Befreiung des Ostens noch erleben zu können. Als sie Wirklichkeit wurde, erschien sie mir wie ein Wunder. Doch der Ausgang dieser Entwicklung ist völlig ungewiß. Das Schlimmste und das Beste scheint nun möglich geworden zu sein. Ich fürchte, daß seit der Jugoslawienkrise die ungünstige Perspektive wahrscheinlicher wird.

FURCHE: Besonders die Gleichsetzung Europas mit der EG ist fragwürdig gworden.

HERSCH: EG-Europa wird sich jetzt immer mehr nach Osten hin entwickeln und sein Gebiet rasch vergrößern. Dadurch wird die Integration im Westen zu kurz kommen.

Es wäre vielleicht besser, wenn neben der EG eine zweite Föderation mit den Ländern Mittel- undOsteuro-pas, dem Baltikum sowie den Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion entstünde - und aus beiden eine Art „Superföderation" geschaffen würde. Das wäre der Weg der Vorsicht, den wir jetzt unbedingt beschreiten sollten. Denn Groß-Europa besteht jetzt in politischer Hinsicht noch kaum und militärisch überhaupt nicht. .

FURCHE: Sie sagten, im Osten wie im Westen müsse man nach einem dritten Weg, nach einem „Liberalis-me corrige", suchen.

HERSCH: Diesen Begriff habe ich von Jacques Delors übernommen. Ich finde diesen Ausdruck sehr passend. Denn ich glaube nicht, daß -weil das kommunistische System gescheitert ist - schon bewiesen ist, daß es am westlichen System überhaupt nichts zu verändern gäbe.

Ich finde, man kann es nicht völlig dem freien Wettbewerb überlassen, was überleben und was untergehen soll. Der freie Wettbewerb ist für mich kein Gottesurteil.

Man muß Mittel und Wege finden -die aber nicht staatlich sein sollen -, damit die Unternehmen selbst die Initiative ergreifen können. Beide sollten gemeinsam über die Zukunft entscheiden. In diesem Bereich gibt es einiges zu korrigieren und auch neu zu erfinden. Hier .bietet sich dem Westen auch eine Gelegenheit, die er früher nicht hatte, weil er sich in einer Abwehrstellung gegenüber dem Osten befand; jetzt hat man an Bewegungsfreiheit gewonnen. Doch man darf trotzdem die Initiative nicht zerstören und muß abernach vernünftigen Vereinbarungen suchen. Es reicht nicht aus, sich nur nach dem Kampf ums Überleben auszurichten.

FURCHE: Flüchtlingsströme bewegen sich auf- Westeuropa zu. Wie soll man diesen Strömen begegnen?

HERSCH: Das ist erschreckend, bisher war es schon schlimm und der Westen hat die Lage nicht beherrscht. Es könnte jetzt eine neue Welle kommen. Ich finde, daß Europa in großer Gefahr ist. Für die größte Gefahr halte ich, daß die Europäer dabei ihre Menschlichkeit verlieren. Bis vor kurzem hat man es nicht für möglich gehalten, daß man auf Asylsuchende schießen oder ihre Unterkünfte anzünden wird. Und doch ist es vielerorts geschehen, selbst in der Schweiz.

Mit der Schweizer Philosophin Jeanne Hersch sprach Felizitas von Schönborn.

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