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Tage vergehen, Augenblicke bleiben…

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Unser häusliches Leben war damals außerordentlich still; die Eltern hatten nie viel geselligen Umgang gehabt. Nun wurde nur ein Raum geheizt und die kärglichen Rationen reichten nicht aus für die Bewirtung von Gästen. Daß man auch im Schwarzhandel kaufen konnte, wußte ich nicht einmal: für meinen Vater kam es nicht in Frage. Die Großmutter schickte öfters Pakete, deren Inhalt meist weiterverteilt wurde, sofern er nicht Raum fand in den Feldpostpäckchen.

Einmal, das will ich nun auch beichten, damit ich dir, mein Gottfried, nicht gar so unbegreiflich vorkomme, einmal war ich allein zuhause, als eine unerwartete Sendung ankam. Vorher hatte ich mich nur schwer auf meine Aufgabe konzentrieren können, ich sah den Regentropfen zu, die über die trüben Scheiben des Hofzimmers rannen und fühlte mich leer und freudlos. Wenn doch endlich etwas Entscheidendes geschähe! Wenn Horst auf Urlaub käme … Wenn ich beim Redewettbewerb den ersten Preis gewänne! (Aber ich wußte, daß ich keine Chance hatte; wirklich begehrenswert erschien mir ja nur das Unerreichbare)…

Da läutete es schrill und lang. Horst! dachte ich; gegen alle Vernunft glaubte ich, er müsse es sein. Ich stürzte zur Tür. Es war der Paketausträger. Ich übernahm und unter schrieb; und dann begann ich auszupacken, und da fand ich, außer den üblichen Gaben: Speck und Mohn und Mehl, sorgsam in Holzwolle verpackt, ein Steinguttöpfchen mit Honig. Eine unbezwingliche Gier hieß mich kosten. Ich kostete so lang, bis das Gefäß halb leer war; da trug ich es in mein Zimmer, versteckte es zwischen Pullovern und Mützen in meinem Kleiderkasten. Dann ging ich in die Küche, steckte die Holzwolle in den Ofen und verbrannte sie, räumte den Karton wieder ein und verschnürte ihn sorgfältig. Ich schämte mich meiner Naschsucht, die mir nun ganz unbegreiflich war. Ich konnte das einfach nicht eingestehen: nie mehr würden meine Eltern mich sonst ernst nehmen!

Ähnliches hat wohl jedes Kind einmal erlebt, merkwürdig ist nur, daß ich als fast erwachsener Mensch diese Kindersünde beging.

Es blieb mir nicht erspart, die kleine Veruntreuung durch eine Lüge verschlimmern zu müssen, denn am nächsten Tag kam ein Brief der Großmutter und in dem stand: der Honig gehört der Helga ganz allein!

Welcher Honig? rief ich allzurasch. Den hat sie vergessen, lachte die Mutter. Sie wird alt, meinte der Vater, so etwas wäre ihr früher nicht passiert. - Ach was, das kann doch jedem passieren! - Dir schon, neckte der Vater, aber nicht einer Gutsfrau, die sogar die Äpfel zählt. Arme Helga! Aber reklamieren dürfen wir wohl nicht, das wäre beschämend für die alte Frau. - Natürlich nicht, bestätigte ich schnell; es ist doch auch ganz egal…

Warum erzähle ich dir diese läppische Geschichte? Weil sie mir so gegenwärtig ist, wie kaum eines der großen Ereignisse; und weil ich seither weiß, daß jeder Mensch zuweilen etwas tut, das ihn selbst völlig überrascht. Und mag es auch nur eine Bagatelle sein: wenn sie die Vorstellung,

die man bis dahin von sich hatte, umstößt, hält man sie angstvoll geheim und würde eher ein Verbrechen zugeben und alle Folgen auf sich nehmen, als lachend zu bekennen: Ja, seid nicht bös, ich weiß selbst nicht, wie es gekommen ist, aber das habe ich getan! - Getan? Eben nicht! Es ist einem zugestoßen, und genau das ist die Schande.

— Ich habe soeben zwanzig Blätter zerrissen. Brav hatte ich alles aufgeschrieben, was mir aus jener Zeit einfiel und es in einen möglichst genauen Ablauf geordnet, nach „bestem Wissen und Gewissen”, wie man so sagt. Es war eine greuliche Arbeit, vergleichbar dem Rübenwaschen der Nachkriegsmonate, mit blaugefrorenen Händen und Füßen, die nur noch in kochend heißem Wasser wieder warm würden und dann stundenlang wehtaten. Auch mein künstlich aufgetautes Herz hat mir wehgetan, und trotzdem hat, was ich mir dann durchgelesen hab, geschmeckt wie ein zulange gelagerter Strudelteig- wie Pappendeckel also - und ich hab mich gefragt: Wozu das Ganze? Warum quäl ich mich damit ab, festzustellen, in welchem Monat wir in Rußland einmarschiert sind und wann genau Amerika in den Krieg eingetreten ist, und ob Horst vor oder nach Alberts Verwundung nach Afrika versetzt worden war! Es ist doch ganz gleichgültig! Ja, aber ich hab eben den Ehrgeii, daß alles stimmt. Denn sonst wirst du denken, vielleicht stimmt überhaupt nichts. Ich fürchte es war ein falscher Ehrgeiz.

Unsere Erinnerung ist kein Fim, den man einspannen kann, um die Vergangenheit zu kopieren! Und genau das hatte ich doch beabsichtigt, um einen authentischen Bericht zu erhalten, einen ganz sachlichen.’Du selbst solltest dir danach dein Urteil bilden, mir, wenn du mußt, mein Urteil sprechen. Ich wollte nichts vorwegnehmen.

Als wäre nicht jeder Bericht ein Versuch der Suggestion! Armer Gottfried! Und doch sind die Worte die einzige Brücke vom Ich zum Du … aber …

Der heutige Gerichtssaalbericht in der Zeitung hat dazu beigetragen, mir die Augen zu öffnen. Ein ehemaliger KZ-Aufseher, der viele Jahre unter falschem Namen einem bescheidenem Gewerbe nachgegangen ist und sich allgemeiner Achtung erfreute, wurde von einem seiner ehemaligen Häftlinge erkannt, von den Behörden identifiziert, und nun stand er wegen mehrfachen Mordes vor Gericht. Gestern wurde er freigesprochen. Ein Zeuge hatte falsch ausgesagt: Er habe selbst gesehen, wie der Angeklagte im Jahre 1940/seinen Sohn zu Tode trat. Der Beschuldigte leugnete. Sein Verteidige^ konnte beweisen, daß er erst im daraufolgenden Jahr in jenem Lager Dienst gemacht hat! Mit nachgewiesenem Irrtum des einen Zeugen schienen den Geschworenen auch die Aus sagen der anderen entwertet. Wie, frage ich mich, ist denn auch ein solcher Irrtum möglich? Der alte Mann weiß nicht mehr, in welchem Jahr sein Sohn gestorben ist? Die Jahre im Lager mögen einander wohl auf schauerliche Weise geglichen haben. Oder der Angeklagte war wirklich nicht der Mörder, dann glichen sich auch die Quäler auf schauerliche Weise?

„Les jours passent, les instants res- tent!” steht auf dem Deckblatt des alten Kalenders: Tage vergehen, Augenblicke bleiben. Ich muß auf die Genauigkeit einer Chronik verzichten. Da war der Augenblick der Rosen, mit dem meine Jugend begann; ich dachte, es sei die Ouverture, und es war doch auch schon das Finale!

Ob es nur mir eigentümlich ist, das Bestehende auch für das Bleibende zu halten? Hab ich zuwenig vorausschauende Phantasie, oder geht es den meisten Menschen so? Bei dem Satz: Nach dem Krieg … habe ich mir damals nicht das Geringste vorstellen können. Auch nicht, als sich allmählich die Niederlage abzuzeichnen begann. Was konnte danach kommen? Die bolschewistische Herrschaft - unserer Propaganda entsprechend: ein gesichtsloses Phantom, das Schreckliche schlechthin, so wenig konkret wie das himmlische Jerusalem!

Das ich mir die Ehe mit Horst nicht vorstellen konnte und sie deshalb auch nur vage ersehnte, erwähnte ich schon, und ich habe meine Ahnung ihrer Nicht-Verwirklichung hineininterpretiert. Aber ob das stimmt? Als du klein warst, Gottfried, ein runder blonder Posaunenengel, konnte ich mir absolut nicht vorstellen, wie du als ruppiger Halbwüchsiger sein würdest; dennoch bist du, Gott sei Dank! einer geworden.

Wie die Zukunft sich aus der Knospe der Vergangenheit entfaltet, ist so zwingend, als hätte es nicht anders sein können; dennoch versagen alle Analogieschlüsse auf künftiges Geschehen, künftige Entwicklung! Wie viele kluge Menschen habe ich Prognosen stellen hören; etwa meinen Vater. Alle waren falsch. Die wahren Propheten sehen wohl wirklich das auf uns Zukommende, nicht reflektierte Vergangenheit.

Ich bin noch keinem begegnet.

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