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„Tagedieb, Händler, Spekulant“

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Im Paß jedes Sowjetbürgers ist außer Namen, Geburtsort und Datum auch die Nationalität angegeben. Bei Sowjetbürgern jüdischer Abstammung steht im Paß „Jude“ (für die Nationalität istt im Gegensatz zum jüdischen Recht, der Vater ausschlaggebend).

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Im Paß jedes Sowjetbürgers ist außer Namen, Geburtsort und Datum auch die Nationalität angegeben. Bei Sowjetbürgern jüdischer Abstammung steht im Paß „Jude“ (für die Nationalität istt im Gegensatz zum jüdischen Recht, der Vater ausschlaggebend).

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Diese Angabe wird von sowjetischen Juden meist nicht als Bestätigung ihrer nationalen Eigenständigkeit empfunden, sondern eher als Zeichen der Diskriminierung. Der Assimilationsgrad sowjetischer Juden ist nämlich sehr hoch, wenn man ihn etwa mit dem europäischer Juden in der Schweiz oder in Frankreich vergleicht. Das Leben sehr vieler sowjetischer Juden, besonders Angehöriger der Intelligenz, unterscheidet sich in keiner Weise von dem ihrer Nachbarn „russischer“ Nationalität. Kaum einer von ihnen beherrscht auch nur ein paar jiddische Brocken, jüdische Traditionen sind ihnen höchstens aus den Büchern von Scholem Aleichem (auf dessen

Erzählungen das Musical „Anatevka“ beruht) bekannt, und in religiöser Beziehung sind sie, wie auch die überwiegende Mehrzahl der Russen, völlig indifferent. Nicht wenige sowjetische Juden wissen nur aus der Angabe in ihrem Paß, daß sie „Juden“ sind und nicht „Russen“.

Eine nicht zu unterschätzende Rolle bei der Wachhaltung eines gewissen jüdischen Nationalbewußtseins spielt natürlich der traditionelle russische Antisemitismus. Der russische Antisemitismus unterscheidet sich auf besondere Weise vom europäischen — er tritt viel weniger in der Form konkreter Beleidigungen und Beschimpfungen auf, denn als staatspolitisches Instrument des großrussischen Nationalismus und das ist gerade das Bedrohliche an ihm. Wohl werden russische Juden in Moskau selten auf Grund ihrer Nationalität beschimpft (in der Ukraine ist das sehr wohl möglich, dort ist der Antisemitismus viel bösartiger), aber man hört immer wieder, daß an verschiedenen Hochschulen ein inoffizieller Numerus clausus (ein Prozent!) für Juden besteht. Die drei Millionen sowjetischer Juden stellen in der Sowjetunion einen sehr hohen Anteil an höchstqualifizierten Wissenschaftlern und Künstlern, sie stehen darin zahlenmäßig (nicht prozentuell!) hinter den 150 Millionen Russen an zweiter

Stelle. Besonders hoch ist der Anteil der Juden auf den verschiedensten Gebieten naturwissenschaftlicher Grundlagenforschung (Mathematik, theoretische Physik), in darstellender und bildender Kunst und im russischen Nationalsport, dem Schachspiel. Eine gewisse Abwehrhaltung offizieller sowjetischer Stellen gegen jüdischen Wissenschaftlernachwuchs existiert ganz sicherlich, doch wäre ein auf wissenschaftlichem Gebiet extensiv angewendeter Antisemitismus für die Sowjetunion reine Selbstaggression. Anderseits weiß jeder russische Jude, daß die russische und auch die sowjetische Geschichte voll ist von irrationalen Ereignissen, die meist schwer zu betJuden: Antisemitismus als Selbstaggt greifen und noch schwerer zu ertragen sind. So sind sehr vielen Juden die Jahre nach dem zweiten Weltkrieg in lebendiger Erinnerung, in denen das schlimmste damalige Schimpfwort, nämlich „Kosmopolit“, ein Synonym für „Jude“ war, und auch der Leningrader „Ärzteprozeß“ von 1948, eine ebenso sinnlose wie grausame Kombination von stalinistischem Verfolgungswahn und gezielter Judenverfolgung, ist nicht ganz vergessen. „Diese Zeit ist vorbei“, meinen die meisten Russen — aber wer garantiert, daß sie nicht plötzlich wiederkommt?

In der Sowjetunion haben gesellschaftspolitische Prozesse einen sehr viel geringeren Öffentlichkeitsgrad als in kapitalistischen Ländern und lassen sich deshalb sehr viel schwerer voraussagen.

Einen prinzipiell anderen Charakter als der Antisemitismus der Stalinzeit trug jener der Chruschtschow-Ära — er richtete sich vor allem gegen die religiösen Juden und bediente sich aller möglichen Schikanen, die auch gegen andere religiöse oder nationale Gemeinschaften angewandt wurden (Schließung von Synagogen, Auflösung jiddischer Ensembles, keine Zulieferung koscherer Produkte). Für die Intelligenz waren diese Maßnahmen materiell kaum spürbar. Die Intellek-1 tuellen (beliebiger Nationalität, nicht nur Juden) leiden vor allem unter der ständig spürbaren Einengung der geistigen Freiheit, unter der fast völligen Unmöglichkeit zu reisen, unter der erschwerten Kommunikation untereinander und mit ihren Kollegen im Ausland. Ein weiterer Grund für den Drang vieler Sowjetbürger nach dem Westen ist die eigentümliche Art der Berichterstattung sowjetischer Massenkommunikationsmittel, die bekanntlich darin besteht, über den Westen vorwiegend Negatives und über die Sowjetunion vorwiegend Positives zu berichten. Dies hat den Effekt, daß Sowjetbürger vor allem negativen Informationen über ihr eigenes Land und positiven Informationen über den Westen Glauben schenken. Ein Großteil der emigrationswilligen Juden macht sich völlig ungerechtfertigte Illusionen über den „Goldenen Westen“.

Reichen diese Gründe zur Erklärung der Tatsache aus, daß seit ungefähr zwei Jahren etwa 1200 Juden im Monat die Emigration gestattet ression photo; votav wird? Nein — denn diese Massenemigration ist ein absolut einmaliges Ereignis in der sowjetischen Geschichte. Die Gründe für den Wunsch nach Emigration bestanden in der hier beschriebenen Form schon ziemlich lange, die Emigrationsbewegung kam aber erst 1969 in Gang, als Israel den Sechstagekrieg gewonnen hatte und an jüdischer Masseneinwanderung besonders interessiert sein mußte. Was bewog die Sowjetführung dazu, Israel mit der Erlaubnis zur Auswanderung sowjetischer Juden so selbstlos unter die Arme zu greifen? Die Sowjetunion leidet selbst unter Arbeitskräftemangel und ist lebhaft daran interessiert, die riesigen menschenleeren Territorien in Sibirien und im sowjetischen Fernen Osten zu besiedeln. Zwar zahlt Israel für jeden Auswanderer dringend benötigte Devisen (je nach Alter, Wehrdienstfähigkeit und Ausbildungsgrad bis zu 2000 Dollar), zwar besteht für die Sowjets die Möglichkeit, eine beliebig große Anzahl von Leuten ins Ausland zu schleusen, die in der einen oder anderen Form zu weiterer „Mitarbeit“ bereit sind (diese Variante wurde von dem sowjetischen Starjournalisten Victor Louis angedeutet, der schrieb, daß die freundschaftlichen kulturellen Beziehungen zwischen Israel und der Sowjetunion durch die Emigration bedeutend verstärkt würden), doch wollen alle diese Gründe nicht so recht überzeugen.

Vielleicht handelt es sich wieder einmal um einen irrationalen Akt, möglicherweise hat die sowjetische Führung selbst keine genauen Pläne und Absichten in dieser Angelegenheit. Vorläufig schadet eine zahlenmäßig immer noch geringfügige Emigration wenig, ja sie nützt sogar, da sie Geld bringt und die „Beziehungen“ verstärkt, und schließlich sind die Sowjets zu nichts verpflichtet und können die Emigrationsbewegung jederzeit stoppen.

Auf die Frage, wie viele Juden emigrieren wollen, ist naturgemäß schwer zu antworten. Wenn man bedenkt, daß von den rund drei Millionen sowjetischen Juden ein nicht geringer Teil nur auf dem Papier Juden sind oder völlig russifiziert, daß viele aus beruflichen, familiären und altersmäßigen Gründen und nicht zuletzt aus Liebe zu ihrer Heimat sehr fest in Rußland verwurzelt sind, sollte die Zahl der Auswanderungswilligen nicht überschätzt werden. Um die Auswanderung bemüht sind nach hartnäckigen Gerüchten etwa 300.000 Juden.

Die ziemlich mühselige Auswanderung läuft technisch folgendermaßen ab: Der auswanderungswillige Jude bemüht sich (meist illegal) darum, einen „Aufruf“ aus Israel zu erhalten — dieser Aufruf kann von Verwandten erfolgen oder direkt vom Staate Israel. Zusammen mit dem Aufruf reicht er das Gesuch um die Auswanderung ein. Dem Gesuch muß eine „Charakteristik“ des Arbeitgebers beiliegen, was vor allem dazu dient, den Arbeitgeber von dem Wunsch nach Emigration in Kenntnis zu setzen. Dem Gesuch folgt ein monatelanges Warten voll Unsicherheit. Manchmal wird einigen Familienmitgliedern die Emigration gestattet, den anderen wird erklärt: „Sie fahren nicht!“ Alle möglichen Elemente der Verunsicherung werden von den offiziellen Stellen sehr bewußt gehandhabt. Das Visum selbst kostet 900 Rubel und ist eine Woche lang gültig, der Emigrant hat also eine Woche Zeit, seinen Haushalt aufzulösen und alle seine Reisevorbereitungen zu treffen (eine sehr humane Frist, wenn man mit Polen vergleicht, wo sie oft nur 24 Stunden beträgt). Alle Emigranten werden über Wien geleitet, wo sie von jüdischen Organisationen in Empfang genommen und weiter betreut werden.

In der letzten Zeit konnten vor allem grusinische Juden emigrieren — der Vorraum der österreichischen Botschaft in Moskau ist tagtäglich von grusinischen Juden überlaufen. Die Grusinier und mit ihnen die grusinischen Juden gelten innerhalb des sowjetischen Vielvölkerstaates als ein Volk lebenslustiger „Tagediebe, Händler und Spekulanten“ — es ist verständlich, daß man grusinische Juden leichter ziehen läßt als Intellektuelle, deren Auswanderung sehr viel zögernder verläuft. Ganz allgemein erhalten Juden ohne qualifizierte Ausbildung die Genehmigung zur Auswanderung viel leichter als qualifizierte Kräfte.

Niemand unter den an einer Emigration interessierten Juden gibt sich der Illusion hin, daß allen die Auswanderung gestattet werden wird. Aus KGB-nahen Kreisen (KGB Komitee für Staatssicherheit) war die Zahl 150.000 zu hören. Darunter befinden sich sicherlich 10 Prozent potentieller „Mitarbeiter“. Auch von emigrierenden Juden selbst ist zu erfahren, daß sich unter den Emigranten nicht wenige zweifelhafte Subjekte befinden. Von einigen, die sich heute als überzeugte Zionisten geben, ist bekannt, daß sie früher Beziehungen zum KGB unterhielten.

Von den auswanderungswilligen Intellektuellen sind sehr wenige zionistisch eingestellt, die meisten wollen Israel nur als Sprungbrett für eine Karriere in einem, hochentwickelten westlichen Land benützen. Die grusinischen Juden wieder denken gar nicht daran, in einem israelischen Kibbuz Neuland zu bearbeiten. So bringt diese Emigrationswelle allen direkt daran Beteiligten ganz sicherlich viele schwierige Probleme, ob die Emigranten im Westen das erhoffte Glück und die Befriedigung ihrer persönlichen Wünsche und Interessen finden, ist hingegen fraglich.

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