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Taktische Demaskierung

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Frost im August — mit diesen Worten läßt sich beischreiben, was während dieses Sommers in Deutschland geschehen ist. Eine Reihe von Zwischenfällen an der Grenze zwischen der Bundesrepublik und der DDR ließen über die deutsch-deutschen Beziehungen dicken Rauhreif fallen. Die Beziehungen zwischen Bonn und Ost-Berlin — einem geflügelten Wort zufolge ohnedies schlecht, aber besser als vor dem Grundvertrag, als es nämlich gar keine Kontakte gab — diese deutsch-deutschen Beziehungen sind wieder einmal aufs äußerste belastet worden.

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Frost im August — mit diesen Worten läßt sich beischreiben, was während dieses Sommers in Deutschland geschehen ist. Eine Reihe von Zwischenfällen an der Grenze zwischen der Bundesrepublik und der DDR ließen über die deutsch-deutschen Beziehungen dicken Rauhreif fallen. Die Beziehungen zwischen Bonn und Ost-Berlin — einem geflügelten Wort zufolge ohnedies schlecht, aber besser als vor dem Grundvertrag, als es nämlich gar keine Kontakte gab — diese deutsch-deutschen Beziehungen sind wieder einmal aufs äußerste belastet worden.

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Rund um den 15. Jahrestag des Berliner Mauerbaus eskalierte die DDR die Grenzfrage. Mit blutigen Schüssen rief sie in Erinnerung, daß ihre „Staatsgrenze West“ gerade das nicht ist, was die DDR immer wieder behauptet, nämlich eine normale Grenze zwischen zwei Staaten. Ein Grenzzwischenfall mit dem ehemaligen DDR-Flüchtling Gartenschläger leitete die heiße Phase an der deutsch-deutschen Grenze ein, die mit der Erschießung des italienischen Lkw-Fahrers Benito Corghi vorerst ihren Höhepunkt fand. Gartenschläger montierte bekanntlich an dem Zaun, der heute die Grenze von Lübeck bis nach Franken ziert, unmenschliche Selbstschußanlagen ab. Diese automatischen Geräte verschießen aus einem Metalltrichter den Dum-Dum-Geschossen ähnliche Metallkörper, die den Flüchtling, der die Selbstschuß anläge auslöst, schwer verletzen. Gartenschläger konnte solche von Honecker bestrittenen Mordinstrumente sicherstellen, wurde aber schließlich ein Opfer der DDR-Grenzpolizei.

Offensichtlich von diesem Fall gereizt, wurde der Schießbefehl für die DDR-Grenzbeamten verschärft. Auch irrtümliche Grenzüberschreitungen durch Touristen wurden mit Schüssen geahndet. Solche Übertretungen kommen relativ häufig vor, da die Grenze auf westlicher Seite nur mit

Schildern „Halt! Grenze!“ markiert ist und viele Spaziergänger den Metallgitterzaun der DDR, der sich bereits auf DDR-Gebiet befindet, für die Grenzlinie halten (siehe auch Furche 1976).

Proteste der Bundesrepublik gegen das brutale Vorgehen gegen westliche Grenzgänger, die versehentlich auf DDR-Gebiet gerieten, gaben Ost-Berlin nur Anlaß, massiv gegen die Bundesrepublik zu hetzen. Rigoros exerzierte die DDR hier ihre Abgrenzungspolitik. Sie warf der Bundesrepublik vor, die DDR-Grenze nicht zu respektieren und vielmehr zu Grenzprovokationen aufzufordern. Diese Vorwürfe, ohnedies bereits absurd genug, wurden endgültig irrational, als der italienische Kommunist Corghi ein Opfer der deutschen Kommunisten wurde. Denn nicht nur, daß die ganze Theorie von den „westlichen Grenzprovokateuren“ damit in sich zusammenfiel, wurden auch die Geschehnisse an der deutsch-deutschen Grenze plötzlich in das internationale Blickfeld gerückt. Die ständig um internationale Anerkennung buhlende DDR sah sich von der Weltöffentlichkeit als brutaler Prolizeistaat demaskiert, der harmlose Grenzgänger wie Kaninchen zusammenschießt.

Für die DDR-Propaganda aber ist noch immer die Bundesrepublik daran schuld, daß es zu den Zwi-

schenfällen kommt. Und nach dem Motto „Angriff ist die beste Verteidigung“ verkündet das SED-Zentralorgan „Neues Deutschland“, daß angesichts des provozierenden Verhaltens der Bundesrepublik die bisher geltende Besuchsregelung eventuell überprüft werden müsse. Im Klartext hieß das, daß die DDR damit droht, den seit dem Grundlagenvertrag und durch diesen ermöglichten, inzwischen enorm angewachsenen Besuchsverkehr von der Bundesrepublik in die DDR einzuschränken.

Ein solcher Schritt, der ein glatter Vertragsbruch wäre, käme Ost-Berlin sehr gelegen. Denn die acht Millionen Bundesbürger, die 1975 die DDR besuchten (1971 waren es nur 2,5 Millionen) sind für die DDR-Führung eine ständige Unterminierung ihrer Abgrenzungspolitik. Denn wenn auch die Mauer in Berlin und der Gitterzaun und Todesstreifen an der Grenze die Flucht aus der DDR nahezu unmöglich gemacht haben — die Besucher aus dem Westen bringen Unruhe in die DDR-Bevölkerung. Seit der Unterzeichnung der Schlußakte von Helsinki- sieht sich die DDR-Führung überhaupt kritischen Fragen ihrer Bürger ausgesetzt. Wo bleibt die versprochene Freizügigkeit? Die Zahl der Aussiedlungsanträge in die Bundesrepublik ist trotz der mit dem Einreichen eines solchen Antrags verbundenen Diskriminierung in der DDR seit Helsinki enorm gestiegen.

All diesen für Ost-Berlin unangenehmen Entwicklungen glaubte die DDR mit ihrem rigiden Kurs in der Frage der Grenzverletzungen beikommen zu können. Allerdings dürfte sie dabei die Unterstützung durch die UdSSR überschätzt haben. Zwar deckt Moskau das Vorgehen der DDR, aber nach dem Tode des Kommunisten Corghi dürfte die Weisung an Pankow ergangen sein, die

Sache nicht auf die Spitze zu treiben. Bei den anderen östlichen Verbündeten durfte die DDR ohnedies nach Corghis Tod kaum mit Sympathie rechnen. Es war eher Schadenfreude über das Mißgeschick der im Raum des Warschauer Pakts recht unbeliebten DDR, die sich im sozialistischen Lager breit machte. Aber auch Moskau war nicht daran interessiert, die Abkühlung so weit zu treiben.

Immerhin könnte eine Fortsetzung des harten Kurses von Ost-Berlin den Unionsparteien für den in seine heiße Phase eintretenden Wahlkampf enormen Auftrieb geben. Und man zieht in Moskau eine verhand-vlungs- und gesprächsbereite SPD/ FDP-Regierung einer Unionsregierung vor. Denn diese böte zwar ein klareres Feinbild, paßte aber gerade damit nur schlecht in Breschnjews Konzept.

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