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„Es ist die Höflichkeit Tannhäu-sers, Wagner die Beschämung zu ersparen, sich für gescheiter zu halten als seinen Helden.“

(Theodor W. Adorno)

Fast schon alle Mittel, mich zurückzuhalten, hat Venus bereits ohne Erfolg angewandt: Hetzpropaganda, offene Drohung, Schmeichelei, Vorwürfe. Nun greift sie zum letzten und, wie sie meint, wirksamsten Mittel: zur Be-zirzung. „Mit leiser Stimme beginnend“, wie Herr Wagner vorschreibt, umgirrt sie mich: „Geliebter, komm! Sieh dort die Grotte, von ros'gen Düften mild durchwallt! Entzücken bot' selbst einem Gotte der süß'sten Freuden Aufenthalt.“ Ich würde schon wieder von meiner Abenteuerlust lassen, meint Venus, falls ich erst einmal „besänftigt auf dem weichsten Pfühle“ bin, wie sie sich ausdrückt. Alles malt sie mir verlockend aus. Die Sirenen respondieren. Das gibt's doch nicht, daß ich jetzt noch fliehen kann! Oder doch?

Unter den Rittern herrscht großes Rätselraten, was meine plötzliche Wiederkehr bedeuten soll. Der naive Landgraf glaubt, ich wolle in den Kreis der Sänger zurückkehren. Biterolf spekuliert darüber, daß meine Rückkehr einerseits „Versöhnung“ bedeuten könnte, anderseits aber auch „erneuten Kampf. Alle fordern mich fünffach auf: „Sag es an!“ Sie wollen mich gesprächig machen, weil die Stabilität ihrer Gruppe durch meine Anwesenheit offenbar ins Wanken gerät. Meine Rolle ist unklar. Die von Biterolf aufgestellte Alternative preßt nun Walther in das Freund-Feind-Schema, welches alsobald von den anderen Sängern aufgegriffen wird. Jetzt fragen sie alle in gehäufter Form: „Als Feind?“, um aus meinem stummen Mund eine germanisch aufrechte und unzweideutige Antwort zu provozieren.

Eine Zeitlang befinde ich mich in der glücklichen Lage, daß Heil und Liebe für mich dasselbe sind. Daß meine Entflammtheit für Elisabeth plötzlich in einen Preisgesang auf Venus umschlagen kann, kann eigentlich nicht überraschen. Denn die Begegnung mit Venus im Venusberg, die ich als nicht-heilsvermittelnd erfahren habe, wurde durch die Antithese der Liebe zu Elisabeth als Ziel der Heilsverwirklichung abgelöst und als Irrweg beseitigt. Nunmehr muß ich aber in der kultdramatischen Repräsentation der Venus durch Elisabeth beide Pole miteinander versöhnt und in einem dialektischen Sinne aufgehoben erblik-ken. Elisabeth ist für mich also die wahre Venus, und ihr gilt mein Bekenntnislied, das die Kollegen so schockiert.

Gerade dieses mein Bekenntnislied, das ja doch auch ihrer Hallenliturgie gerecht wird, stößt auf die schroffe Ablehnung der Ritter. Mein Tun bezeichnen sie mit den Ausdrücken „Frevel“, „Missetat“ und „Schuld“, mich selbst nennen sie einen „Verruchten“, einen „Sünder“, einen „von mächtigem Zauber Gefangenen“, einen „schändlichen Verräter“, einen „Schuldigen“, ferner bin ich für sie „der Sünde fluchbeladner Sohn“. Und das Ganze ist für sie nichts anderes als „entsetzlich“, „scheußlich“, „fluchenswert“, und sie brandmarken es als „furchtbar“ und „schmachbefleckend“. Dabei sind auch sie Jünger der Venus, diese gehässigen Minnejodler!

Von einer Akklamation der Gemeinde kann überhaupt keine Rede sein. Es gibt eine „große Aufregung unter den Zuhörern“, womit Wagner keineswegs seine konservativen Bayreuther Verehrer meint, sondern die auf der Bühne. Biterolf macht sich mit seinem Aufruf zum Religionskrieg zum Sprecher der Orthodoxie. Daß er hier sogar im Namen der ganzen Gemeinde, und nicht bloß im Namen einer Splittergruppe, spricht, beweist die „in tobendem Beifalle“ aller vorgetragene Versicherung: „Heil, Biterolf! - Hier unser Schwert!“ Biterolf leitet seinen Vortrag überhaupt nicht mehr ein, sondern läßt sofort die Bombe ins Haus platzen: Es gibt nur die eine Möglichkeit - heiligen Krieg gegen mich! Biterolf beschimpft mich, er nennt mich „hochmütig“ und einen „Lästerer“. Daraufhin läßt er sich sogar dazu herab, seine Meinung zu begründen. Als Ritter kämpft er, wie er sagt, mit dem Schwert „für Frauenehr und hohe Tugend“. Knapp bevor er zu sprechen aufhört, fällt ihm erst auf, wie unsinnig er sich eigentlich aufregt. Derzeit ist ja gar keine Frauenehre und hohe Tugend zu verteidigen. Aber, das muß man ihm lassen, er versteht es gekonnt, seinen Fauxpas zu kaschieren, indem er de facto seinen Kriegsruf wieder zurücknimmt oder ihn wenigstens entschärft, ihn dem Wortlaut nach jedoch scheinbar noch steigert: „Doch was Genuß beut deiner Jugend, ist wohlfeil, keines Streiches wert!“ Also keines Schwertstreichs! Aber die zu Schwertgängen und Gemetzel aufgerufenen germanischen Haudegen sind bereits derart ereifert, daß es ihnen um Argumente schon nicht mehr zu tun ist.

Elisabeth ist die einzige, die einen Beifall versucht. Die anderen klatschen nicht zu meinen Ausführungen. Und die gute Fürstin des Festes fügt sich dem repressiven Druck und unterdrückt ihren Applaus. Na schön.

So deutlich haben sich die Fronten noch nie geschieden: Jetzt muß ich meine Heilstheologie verteidigen, sonst spucke ich ja meiner Identität ins Gesicht. Also denn! Die auf Grund ihrer Bildung und ihrer entsprechenden Vorurteile verblendeten Zuhörer verfallen in der Regel (selbst Herr Dirnbeck kennt nur sehr wenige Ausnahmen!) auf die verrückte Idee, daß ich jetzt das Lied singe, das ich im ersten Akt gesungen habe, und haben auch noch ein absurdes Mitleid mit mir, weil ich es in ihren Augen unbesonnenerweise tue! Keine Rede kann davon sein: Ich handle ganz bewußt und lautstark. Tatsächlich verwende ich die gleiche reißerische Melodie wie im Venusberg, wenngleich ich mir im einzelnen gewisse improvisatorische Freiheiten lasse. Aber schon die Tonart (ich singe jetzt in E-Dur!) zeigt den qualitativen Sprung: Das Lied gilt nicht mehr der undialektischen Hörselberg-Venus, sondern der Synthese von Elisabeth und Venus, also dem, was wir ja bereits eingehend als die „wahre Venus“ kennengelernt haben. Natürlich ist auch der Text des Liedes bis auf kleine Abweichungen dem Wortlaut nach mit der dritten Strophe des Venusliedes identisch, aber der veränderte Wortlaut bedingt ja gerade die Sinnumkehrung. Solche Dinge kommen eben vor: In Ephesus hat man sich ja seinerzeit auch wegen eines Jotas mehr oder weniger aus Gründen des religiösen Bekenntnisses mit Krautköpfen beworfen! Allerdings habe ich die Synthese sprachlich noch nicht genügend bewältigt, das gebe ich schon zu.

Die Reaktion der Kultgemeinde ist Fluch und Flucht. Die Frauen fliehen „voll Abscheu“, die Männer fassen sich allmählich und reflektieren den Vorfall Ich bin froh, daß wenigstens die Elisabeth nicht völlig durchdreht. Denn sie bleibt als einzige von den Frauen, obgleich es ihr schwerfällt, als einzige gegen den Gruppentrend zu agieren. Herr Wagner hat für den Baldachin „hölzerne Säulen“ vorgesehen, damit sich die einer Ohnmacht nahe Landgrafsnichte stützen kann. Aber irgendwie hat sie meine Synthese schon begriffen.

Mich wundert nichts mehr. Jetzt gehen sie alle auf Elisabeths christianisierende Argumentation ein: „Ein Engel stieg aus lichtem Äther, zu künden Gottes heil'gen Rat.“ Als Christen schwanken sie nunmehr zwischen der Pflicht, den „Schuldigen“ zu richten, und der Pflicht, das Richten einer höheren Instanz zu überlassen. Sie entscheiden sich schließlich mit einem gewissen heidnischen Rest an Feindeshaß für das letztere: „Darf ich auch nicht dem Schuldigen vergeben, des Himmels Wort kann ich nicht widerstehen!“ Was soll's? Bin ich halt auch ein Christ Nach Rom habe ich sowieso schon einmal gewollt.

Irgendwie ist es grotesk, daß der germanisch argumentierende Landgraf dann doch eine christliche Konsequenz zieht: Er hat für mich vorgesehen, daß ich nach Rom zum Gnadenfest zu gehen habe. Zu diesem Zwecke möge ich mich den im Tal noch rastenden Pilgern anschließen, und zwar den Jüngeren, die noch nicht die Gehroutine der Älteren von gestern haben. Die Älteren, mit denen ich ja fast schon mitgezogen wäre, sind am Ersten Mai marschiert.

Die Landgrafennichte ist dermaßen vom Erlösertrieb besetzt, daß sie nicht nur kein Ohr fü r Wolframs Werbungen' hat, sondern auch nicht einmal mehr Worte. Denn als Elisabeth „in schmerzlicher, aber ruhiger Fassung“ (übrigens in der Pariser 'wie in der Dresdner Fassung) feststellt, daß ich nicht unter den Retourpilgern bin, antwortet sie auf die einladende Frage Wolframs „Elisabeth, dürft ich dich nicht geleiten?“ nicht mehr mit Worten, sondern unter Verzicht auf ihre Stimmbänder in einer nonverbalen Körpefsprache, nämlich mit einer echt Wagnerschen Gebärde, welche ausdrückt, „sie danke ihm und seiner treuen Liebe aus vollem Herzen, ihr Weg führte sie aber gen Himmel, wo sie ein hohes Amt zu verrichten habe, er solle sie daher ungeleitet gehen lassen, ihr auch nicht folgen“.

Eine grausame Logik, die sich da hinter meinen Rücken abspielt: Elisabeths Amt, über das sie sich zwar noch nicht ganz im klaren ist, wie es konkret aussehen wird, besteht immerhin in der rechten Sühne für meine Schuld. Die Variable ist durch meine Rückkehr gegeben: Komme ich zurück, so bedeutet dies, daß meine Schuld bereits in Rom hinterlegt ist. Dann bestünde Elisabeths Amt darin, mir und meiner Heilssuche durch ihre Liebe eine gebührende Antwort zuteil werden zu lassen. Komme ich aber nicht zurück, so bedeutet dies wiederum, daß meine sogenannte Schuld auch von höchster zuständiger Stelle nicht „entsündigt“ werden konnte. In diesem Fall bestünde Elisabeths Amt darin, mir durch ihren Sühnetod Vergebung zu verschaffen. Das Wagner-sche Prinzip: Was sich liebt, das stirbt - muß und wird sie in beiden Fällen befolgen.

Daß Elisabeths Leiche nun bereits herbeigetragen wird, läßt darauf schließen, daß sie auf die Wartburg sterben gegangen ist. Der Tod kann noch nicht lange eingetreten sein. Da sie „noch lange“ in der Entfernung gesehen wurde, während Wolfram bereits sein Abendlied sang, und dann doch noch ein gutes Stück zur Wartburg gehen mußte, kann sie, selbst wenn sie dort bei ihrem Eintreten dem Pförtner in die Arme starb, erst seit höchstens zehn Minuten tot sein. Trotzdem wird sie bereits „in einem offenen Sarg“ herbeigetragen. Man hatte selbstverständlich keine Zeit, den Sarg auch noch zuzunageln, was abermals ein paar Minuten in Anspruch genommen hätte, und vielleicht wollte man auch Gewißheit haben, daß es sich nicht um einen Scheintod handelte. Die Todesursache geht jedenfalls aus der ganzen Aktion nicht hervor. Wenn es nicht die Pest war, die die beste Elisabeth in der Blüte ihrer Jugend dahinraffte, könnte es auch der Schmerz gewesen sein, mich nicht unter den Pilgern zu finden; da hätte sie bloß fünf Minuten warten brauchen! Herr Dirnbeck und ich haben die Frage der Todesursache Elisabeths eingehend diskutiert und sind zu dem Schluß gekommen, daß die eigentliche Todesursache das Wagnersche Prinzip ist: Was sich liebt, das stirbt. Dieses tückische Prinzip läßt sich nicht bezweifeln; da muß selbst ich dran glauben.

Das Kommunique des Papstes wirkt vorbereitet. Ich habe mit keinem Wort erwähnt, daß ich im Venusberg war, wieso weiß er es? Haben es ihm die diplomatischen Vertreter der Wartburgritter heimlich gesteckt? Wer ist überhaupt dieser Papst? Herr Dirnbeck, froh darüber, in mir einen authentischen Zeugen zu haben, war sehr daran interessiert, das Inkognito des Wagnerschen Papstes zu lüften. Ich konnte ihm - was mich selbst sehr betroffen machte - leider keine Auskunft geben. Beim bereits eingehend erwähnten Bier nach der Aufführung haben Herr Dirnbeck und ich erwogen, ob nicht vielleicht ein von den Minnesängern bezahlter Schauspieler den Papst für mich mimte. Außerdem wäre auch nicht gänzlich ausgeschlossen, daß ich überhaupt nicht in Rom war, da ich ja doch die ganze Zeit „ver-schloßnen Augs“ durch Italien marschierte. Wir entschieden uns, die Fiktion, es handle sich bei meinem Gesprächspartner tatsächlich um einen römischen Papst, wenn auch fraglich,

Aus der Werkstatt um welchen, beizubehalten, weil Herr Dirnbeck mich davon überzeugte, daß dieser sogenannte Schiedsspruch des Papstes derart raffiniert diplomatisch abgefaßt ist, daß das allein schon als Beweis genügt; ein Mann, der so ge-finkelte Sprüche von sich gibt, kann nur im Vatikan wohnen. Schlimmstenfalls hat mich, diese Reservetheorie vertreten wir auch, ein Kardinalstaatssekretär (mit Tiara verkleidet) bedient, der dann sowieso noch päpstlicher als der Papst wäre.

Die überwältigende Mehrheit der Opernführer und Programmhefte ist der Meinung, daß ich deswegen „in Vernichtung dumpf darnieder“sinke, weil mich der Papst offiziell verdammt hat. Aber das stimmt ganz und gar nicht! Erstens hat mich der Papst gar nicht verdammt, sondern hat mir nur das Prinzip verkündet, daß nach katholischer Lehre keiner aus der Hölle herauskönne, der nun einmal dort sei. Und zweitens bin ich ja gar nicht in der Hölle, also brauche ich auch gar nicht aus der Hölle heraus. Der Papst kann mich weder in die Hölle versetzen, geschweige denn als Lebenden, noch aus der Hölle herausholen. Außerdem ist der Papst nicht so dumm, daß er meint, ich könnte in der Hölle gewesen sein. Da er offenkundig nicht der Meinung ist, in mir eine Geistererscheinung vor sich zu haben, ist er sich völlig im klaren darüber, daß ich, dieser Mensch, der vor ihm im Staub liegt, gar nicht in der Hölle gewesen sein kann. Denn wäre ich es, könnte ich jetzt nicht vor ihm liegen. Beziehungsweise wäre ich in der Hölle gewesen und läge jetzt trotzdem vor ihm, wäre sein Dogma widerlegt Die Schwierigkeit liegt darin, daß der naive Opernfreund auf den Trick des Papstes hereinfällt, vom Venusberg in einer verschleiernden Diplomatensprache zu reden. „Hast du so böse Lust geteüt, dich an der Hölle Glut entflammt“, wie der Papst sagt, bedeutet ja nicht: Du bist in der Hölle gewesen. Außerdem formuliert der Papst hypothetisch: Angenommen ich habe, dann bin ich. Der Papst sagt im Grund überhaupt nichts! Er hat mich weder verurteilt noch mich erlöst Sein Satz ist eine nichtssagende diplomatische FloskeL Statt sich mit mir über mein Heil zu unterhalten, speist er mich mit einem Dogmenzitat ab. Ich habe das ganze Zeremoniell des Pilgers in fataler Weise auf mich genommen, um endlich bei kompetenter Stelle über mein Heil zu konferieren, und der Tiaraträger verkündet mir en passant schnell einen Glaubenssatz, um dann zu den Massenabsolutionen weiterzuschreiten, ohne mich überhaupt ausreden zu lassen. Das ist es, was mich wirklich umwirft Darum falle ich zuerst einmal in Ohnmacht: „Da sank ich in Vernichtung dumpf darnieder, die Sinne schwanden mir.“

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