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Tausende wollen weg

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Seit der Ausweisung von Intellektuellen hat sich die Lage in Ostberlin entspannt. Die kritische Basis wird aber breiter. Immer mehr wollen jetzt Westluft schnuppern.

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Seit der Ausweisung von Intellektuellen hat sich die Lage in Ostberlin entspannt. Die kritische Basis wird aber breiter. Immer mehr wollen jetzt Westluft schnuppern.

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Die ganze Sonne des Friedens soll der Menschheit leuchten, wenn es nach dem Traum der in der Nationalen Front zusammengeschlossenen gesellschaftlichen Kräfte und Parteien in der Deutschen Demokratischen Republik geht. Das heißt, nicht nur Atomwaffen, sondern auch sogenannte konventionelle Waffen sollen von der Welt verschwinden.

Werner Fritz, Chef der Nationalen Front des Kreises Eisenhüttenstadt, einer in den fünfziger Jahren aus dem Boden gestampften, heute 52.000 Einwohner zählenden Industriegemeinde südlieh von Frankfurt an der Oder, kennt und nennt den Namen dessen, der diesen Traum verwirklichen könnte: Michaü Gorbatschow.

Erstaunlich für die DDR, die sonst der mit dem Namen des sowjetischen Parteivorsitzenden verbundenen wirtschaftlichen und teilweise auch politischen Umgestaltung eher einen Maulkorb verpaßt. Erst unlängst wurde eine aus Prag stammende deutschsprachige Zeitung in Ostberlin beschlagnahmt, weil darin zu viel von Wirtschaftsreformen die Rede war.

Aber Gorbatschows Image verbessert sich täglich im deutschen Arbeiter- und Bauernstaat. Skandierten vor einem Jahr junge Popmusik-Begeisterte seinen Namen synonym für mehr Freiheit an der Berliner Mauer, so sehen jetzt immer breiter werdende gesellschaftliche Kreise im SU-Generalsekretär eine Reformhoffnung. Und sogar die Nationale Front ist davon schon angesteckt. Nur die behäbige Sozialistische Einheitspartei (SED) entwickelt enorme Immunkräfte gegen den Gorbatschow-Bazillus.

Freilich, den angestammten Phrasen von der großen Sowjetunion als dem „Hort der Menschlichkeit“ können sich auch gestandene Nationale Front-Leute wie Werner Fritz nicht entziehen. Kritikfähigkeit endet dort, wo der Glaube an die staatstragende Kraft der Arbeiterklasse beginnt.

Uber die offiziell verordnete Friedensarbeit sucht die SED mittels der Nationalen Front Partner in der Weiterentwicklung der „hochentwickelten sozialistischen Gesellschaft“ der DDR. Umworben werden vor allem die Kirchen.

Der evangelische Pastor Rinn von der „Friedensgemeinde“ in Eisenhüttenstadt versteht sich als Mitarbeiter am sozialistischen Staat, „weil Christen und Marxisten natürliche Partner sind“. Er ist als Parteiloser Mitglied im Stadtsenat von Eisenhüttenstadt, findet in der DDR „viele Dinge, die mich ärgern und schmerzen, die unbedingt anders werden müssen“, hat aber bis jetzt „keine Alternative zu der Gesellschaft entdeckt, in der ich lebe“.

Pastor Rinn beruft sich auf Landesbischof Werner Leich, der darauf hingewiesen hat, daß in der DDR bleiben müsse, wer etwas verändern wolle. „Das ist für Christen in der DDR die Meßlatte dafür, wie ernst es einer mit der Gesellschaftsveränderung meint.“

Die persönliche Maxime von Pastor Rinn „Ich bleibe“ wird aber für immer mehr DDR-Bürger fragwürdig. Angesichts der Tatsache, daß in jüngster Zeit immer mehr Ausreiseanträge von Leuten gestellt werden, die die DDR verlassen wollen — Zentren dafür sind Dresden, Jena und der Berliner Stadtteil Marzahn, wo Tausende weg wollen —, setzt sich die Evangelische Kirche zwar grundsätzlich für einen Verbleib ein, hüft aber, wo der einzelne gegen die Staatsmacht und den Staatssicherheitsdienst nicht ankommt.

„Vielfach ist die Kirche dabei aber überfordert“, meint dazu Lutz Rathenow, Schriftsteller mit Wohnsitz in Ostberlin. Er sieht, wie immer mehr Bekannte aus der „Szene“ verschwinden, und sorgt sich darüber, ob die Kirche mit ihrer Gesprächsbereitschaft nicht doch vom Staat nur ausgenützt wird.

Im Falle der Regisseurin Freya Klier und des Literaten Stefan Krawczyk—ihnen hatte man tagelang im Gefängnis Hoffnungen auf positive Regelung ihres Falles gemacht, was dann wieder zurückgenommen wurde und zu äußerster Verunsicherung der Inhaftierten führte - seien Kirchenvertreter vom Staat bloß „benutzt“ worden, sagt Rathenow. „Ohne Vermittlung der Kirche, die Zusagen der Behörden glaubte, daß alle, die die DDR verlassen mußten, wieder zurückkehren dürfen, wären viele lieber im Gef ängnis geblieben als ausgereist.“

In der Ostberliner Kulturszene werden die Geschehnisse um diese Nacht-und-Nebel-Ausweisun-gen vom Februar dieses Jahres nach wie vor heiß diskutiert. „Manche Gruppen verlangen, daß kein Intellektueller ausreisen dürfe, selbst wenn er verhaftet wird“, so Rathenow. Er selbst möchte gerne zu Vortragsreisen in den Westen. Bis jetzt hat er aber dafür noch keine Erlaubnis erhalten. Und wie viele DDR-Bürger wurmt es ihn, daß Reiseanträge ohne Begründung abgewiesen werden. „Der Sicherheitsapparat in der DDR dürfte noch immer großen Einfluß haben, obwohl sich in einzelnen Ministerien schon ein liberaleres Klima bemerkbar macht.“

Was wünscht sich Lutz Rathenow, der der Berliner evangelischen Galiläer-Gemeinde angehört, für die Zukunft seines Landes? „Heute sind schon sehr viele kritische Leute weg. Hier muß endlich die Rückkehrmöglichkeit — bisher ein Tabu — diskutiert werden. Es gibt Leute, die wiederkommen wollen. Ich bin gespannt, ob man im August die ebenfalls Hals über Kopf ausgereisten Schriftsteller Werner Fischer und Bärbel Bohlein zurückläßt. Ihnen hat man von der DDR einen Halbjahrespaß gegeben. Ihre Rückkehr ist für mich ein Testfall für die Verhandlungsstärke der Evangelischen Kirche.“

Rathenow, der in der DDR momentan nicht publizieren darf und Lesungen nur in Kirchen veranstaltet, setzt auf einen stärkeren Ausbau der Reisemöglichkeit in den Westen. „Man sagt immer, das sei für DDR-Bürger ein Devisenproblem. Aber das kann doch nicht für Berlin gelten, wo ich im Westteü beispielsweise die U-Bahn kostenlos benützen und Museen unentgeltlich besichtigen kann. Und ein Stollenpaket kann ich mir aus Ostberlin mitnehmen.“

Im übrigen sei institutionell nicht einmal das ausgeschöpft — meint Rathenow —, was heute schon an Einladungen zu Jugend-, Kultur- und Kirchenaustausch möglich sei. „Die Devisenfrage verhindert, daß man beliebig reisen kann. Aber momentan geht's doch darum, daß jeder wenigstens alle zwei Jahre für zehn Tage in den Westen reisen darf.“

Nur wenige in der DDR sind heute bereit, sich bei Anträgen um eine Westreise mit der Frage „Waren Sie eigentlich schon am Plattensee oder in der Hohen Tatra?“ abspeisen zu lassen.

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