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Den Schwerpunkt der diesjährigen Berliner Festwochen bildeten die Begegnungen mit Moskauer Künstlern. Der langjährige Ost-West-Dialog wurde in diesem Jahr durch Lesungen von Jewgeni Jewtuschenko, Andrej Bitow, Andrej Wosnessenski, Gastspiele des Majakowski- und Mossowjet-Theaters, eine Ausstellung der Bilder von Natalja Nesterowa, Tatjana Nasarenko und Iwan Lubejnikow, eine ausführliche Ubersicht der Werke Dimitri Schostakowitschs und durch die Retrospektive „Moskau im Film“ fortgeführt.

„Denn im Moment geschehen wirklich revolutionäre Veränderungen in unserem Land ... Unsere Gesellschaft geht den Weg der Demokratisierung. Wir haben keinerlei verborgene, geheime Seiten. Bei uns wird das Übel nicht abstrakt gegeißelt, sondern die Leute, die korrupt sind. Die Lüge wird angeprangert, egal wie wichtig die Posten sind, die diese Leute einnehmen.“

Mit diesen Worten beschrieb der russische Schriftsteller Andrej Wosnessenski den Beginn einer „konkreten Demokratisierung“, die auch tiefgreifende Änderungen in den Fragen der Kulturpolitik nach sich zieht.

Die Ergebnisse dieser vor allem von Gorbatschow eingeleiteten Kulturpolitik sind vielversprechend. Auf dem Schriftstellerkongreß wurde die Frage der Herausgabe der Gesamtwerke von Pasternak diskutiert, und es wurde die Rede darauf gebracht, daß Pasternaks Haus in ein Museum umgestaltet werden soll. Eine neue zweibändige Ausgabe von Pasternak wurde veröffentlicht. Die 100.000 Exemplare sind schon verkauft.

Auch Tschingis Ajtmatows neuer Roman „Placha“ wurde gedruckt, in dem zum ersten Mal in der sowjetischen Literatur die Frage der Drogenabhängigkeit offen behandelt wird. Manche Kapitel dieses Romans „stellen eine neue, originelle Interpretation des Christentums dar... Pilatus wird nicht als ein Mensch gezeigt, der Jesus haßt, sondern als ein Mensch, der ihn verehrt und ihn sogar beneidet, aber als Ergebnis der Situation ihn doch hinrichten muß“, sagte Jewtuschenko.

Auch die Werke von Nikolaj Gumiljow wurden neu herausgegeben. Gumiljow wurde zu Beginn der zwanziger Jahre wegen des Vorwurfs der Teilnahme an einem konterrevolutionären Aufstand erschossen. Dazu Wosnessenski: „Bis heute durfte man den Namen Gumiljow nicht aussprechen.“ Der Roman von Rybakow „Die Kinder des Arbat“ soll noch herausgebracht werden. Das Buch, seit zehn Jahren unveröffentlicht, beschreibt die schlimmsten Jahre der Stalinzeit.

Der neue Vorstand des Verbandes der Filmkünstler hat ein Komitee eingesetzt, das noch einmal alle Filme überprüft, die nach dem Willen der Zensur in die Archive gewandert sind. Klimow, dessen Film „Agonie“ acht Jahre lang nicht gezeigt wurde, ist nun erster Sekretär des Verbandes.

Auch in den sowjetischen Theatern kann man — nach Auskunft von Jewtuschenko — ein neues kulturpolitisches Klima spüren. Im Komsomol-Theater wird das Stück „Diktatur des Gewissens“ gezeigt. Schon der Titel verdient besondere Beachtung, denn in früheren Zeiten konnte nur das Proletariat etwas diktieren. Das Schauspiel ist eine offene Diskussion über Tyrannei, Dogmatismus und über das Schicksal der Revolution.

Tichon Chrennikow, Generalsekretär des Verbandes sowjetischer Komponisten, wurde vor allem durch seine scharfen Attak-ken auf Schostakowitsch, Prokof-jew, Strawinsky, Hindemith und Berg bekannt. Heute sieht er sich gezwungen, die einst als formalistisch und dekadent verurteilte Musik zu tolerieren und ermöglichte durch seine Zustimmung ein außergewöhnlich vielfältiges Musikprogramm bei den Berliner Festwochen.

„Berlin wird die Welt nicht verändern; aber einen wichtigen, in dieser Form anderwärts kaum zu leistenden Beitrag können und wollen wir bringen. Dies gilt gerade im Verhältnis zur Sowjetunion, weil Literatur, Kultur und Kunst für die Menschen in diesem Riesenland einen so zentralen Platz in ihrem Leben einnehmen. Die Berliner Festwochen sollen uns, im Westen, dazu verhelfen, dies klarer als bisher zu sehen. Wir wollen von Berlin aus weit über die Grenzen unserer Stadt hinaus dafür Neugier wecken, Freunde gewinnen und Konsequenzen daraus ziehen.“ Es bleibt zu hoffen, daß diese Worte, mit denen der damalige Regierende Bürgermeister und heutige deutsche Bundespräsident Richard von Weizsäcker 1983 die Berliner Festwochen eröffnete, auch über diese Festwochen hinaus ihre Gültigkeit behalten.

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