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Tempel, Tote und Orangen

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Das Bild ist vergilbt, wie aus einer Illustrierten oder einem Plakat herausgerissen, es klebt an einer Hausmauer, von der der Verputz abblättert. Daneben ein Kreuz, darunter Blumen in einem Marmeladeglas. Wir fahren durch den Stadtkern von Palermo — und dies ist die Stelle, an der im September 1982 der Generalpräfekt von Palermo, Carlo Alberto Dalia Chiesa, erschossen wurde.

Rote Brigaden, alte Mafia, neue Mafia - im „Todesdreieck“ von

Sizilien tobt ein erbitterter Kampf der Untergründe, dem in den letzten Monaten fast täglich Menschenleben zum Opfer fallen. Wer sich den Banden irgendwie in den Weg stellt, wird beseitigt.

Die Justiz blutet: der Richter Cesare Terranova, der Staatsanwalt Gaetano Costa, der Leiter des Überfallkommandos von Palermo Boris Giuliano, der Carabi- nieri-Oberst Guiseppe Russo wurden erschossen.

Es scheint also nicht ganz zu stimmen, was als makabrer Scherz aus der Reisegruppe ans Ohr des Chauffeurs Salvatore dringt, der uns am prunkvollen Justizpalast vorbeiführt:

„Da sind alle vom Präsidenten bis zum Hausmeister bei der Mafia!“

Salvatore widerspricht nicht.

Malgoverno, Mißwirtschaft, unfähige Regierung und Verwaltung nennen die Menschen dieser Stadt das Übel. Die sozialen Zustände sind furchtbar. Palermo, eine Stadt mit 700.000 Einwohnern, hat 37.000 Arbeiter und Angestellte, 17.000 Beamte, 40.000 gemeldete Arbeitslose. Der Rest — und das ist eine Mehrheit von über 600.000 — lebt vom Klein- und Kleinsthandel, von erbärmlichen Familienwerkstätten und von dunklen Geschäften.

In den Armenvierteln sind 70 Prozent der Bewohner Analphabeten. Die Wasser- und Sanitärversorgung klappt nicht, der Müll türmt sich in den Straßen zu Bergen. Diebstahl und Straßenraub sind an der Tagesordnung.

Das Klischee der siziliani- schen Mafia-Filme, die sich der Mitteleuropäer mit angenehmen Gruseln zu Gemüte führt, ist

grausame Realität. Mafia, wird uns erklärt, das sei weniger eine Organisation als eine bestimmte Haltung. Insoferne war die alte Mafia noch eine ehrenwerte Gesellschaft von Erpressern, von denen die Sizilianer fast mit Nostalgie sprechen.

Im 15. Jahrhundert trug die Kirche zur doppelten Moral auf der Insel noch durch ein Dekret („Ta- xae cancellare et poenitentiare romanae“) des Erzbischofs Battista dei Conti Naselli von Palermo bei, nach dem Diebstahl, Bestechung und falsche Zeugenaussage durch Almosen gerechtfertigt werden könnten. Die Mafia rühmte sich denn auch stets guter Beziehungen nicht bloß zur weltlichen, sondern auch zur kirchlichen Autorität.

Gemessen an solchen Begriffen, verdiene die neue Mafia, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg im Schutze der Alliierten entwickelte, den ehrenwerten Namen nicht, sagen die Sizilianer. Denn die neue Mafia kontrolliert den Rauschgifthandel vom Orient nach Europa und scheut vor keinem Verbrechen zurück. Wo letztlich die Grenzen zur Stadtguerilla der politischen Extremisten liegen, weiß niemand genau. Es müssen jedenfalls Abertausende von Menschen in ein kriminelles Netz verstrickt sein, welches das

Leben in Sizilien alltäglich umspannt.

Aus dem Fatalismus, mit dem die Menschen das ertragen, ragen derzeit zwei bemerkenswerte Zeichen von Hoffnung auf. Die Intellektuellen, als deren Sprecher der bekannte sizilianische Schriftsteller Leonardo Sciascia auftritt, setzen in ihrem „Manifesto dei ga- lantuomini“ auf die kommunistische Partei, von der sie Rettung aus der ganzen Mißwirtschaft erwarten.

Die Unterzeichner des „Manifests“ sind keineswegs Kommunisten, teilweise nicht einmal sogenannte Linke. Es ist die Kraft der Verzweiflung, die sie nach einer Hilfe rufen läßt, deren Übel ihnen, mit dem gegenwärtigen Zustand verglichen, gering erscheint.

Wie in einigen anderen Teilen der Welt erwacht aber auch das Gewissen der Kirche. Salvatore Pappalardo, 64jähriger Kardinal- Erzbischof von Palermo, einst Leiter der päpstlichen Diplomatenakademie, will den Eindruck geistlicher Mitverschwörung an den Zuständen auf Sizilien nicht länger auf sich sitzen lassen.

In den letzten Monaten setzte der Bischof in flammenden Predigten zum Kampf gegen die Mafia an. Unter seiner Führung bestätigte die sizilianische Bi

schofskonferenz ein längst vergessenes Dekret zur Exkommunikation der Mafia. Pappalardo geißelte den Skandal demonstrativer Freundschaften von Politikern und Verwaltungsbeamten mit Mafia-Bossen.

Wer bedenkt, daß schon allein der Bruch des Schweigens einiges an Mut bedeutet und seither auch der Kopf des Kardinals locker sitzt, der wird das gesetzte Signal nicht unterschätzen.

Heiß von Blut und Tränen“ nennt Salvatore Quasimodo, der mit dem Nobelpreis ausgezeichnete sizilianische Lyriker, sein Land Sizilien. Die Orangenernte ist im Gange. Die Zitronenhaine duften. Kulturdenkmäler einer großen Vergangenheit sehen uns an: die Tempel von Segesta, Selinunte und Agri- gento, die Säulen der Tyrannen, der gewaltige Pantokrator der Normannenkathedrale von Mon- reale.

Eine Million Bewohner haben Sizilien verlassen, ein Fünftel der einheimischen Bevölkerung. Keine Existenz, keine Zukunft. Auf den Bahnhöfen von Zürich bis Düsseldorf findest du sie wieder, in Chikago, in New York.

Schwarz ist die Lieblingsfarbe ihrer Kleider, schwarz wie der Tod. Die Kinder erhalten ihre Geschenke zu Allerseelen — und wie bei uns der heilige Nikolaus und das Christkind sind in Sizilien die geheimnisvollen Spender die toten Vorfahren.

Europa hat viele Gesichter.

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