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Tendenzwende in der Bildung Absage an die „Gegenkultur“

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Kulturrevolution? Sollte dieser Begriff, sonst mit Maoismus und „Viererbande“ assoziiert, auch bei uns Gültigkeit haben? Aber wirken sich nicht die geistigen Umwälzungen unserer Epoche gerade im Kulturellen, vor allem im Bereich von Bildung und Wissenschaft, aus? Und gilt nicht für alle Revolutionen, daß, je wilder sie sich gebärden, desto rascher das Erwachen aus der Hypnose, die Feststellung des Unbehagens folgt?

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Kulturrevolution? Sollte dieser Begriff, sonst mit Maoismus und „Viererbande“ assoziiert, auch bei uns Gültigkeit haben? Aber wirken sich nicht die geistigen Umwälzungen unserer Epoche gerade im Kulturellen, vor allem im Bereich von Bildung und Wissenschaft, aus? Und gilt nicht für alle Revolutionen, daß, je wilder sie sich gebärden, desto rascher das Erwachen aus der Hypnose, die Feststellung des Unbehagens folgt?

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Die rund 200 deutschen Bildungspolitiker, Pädagogen, Soziologen, Philosophen - und viele Journalisten -, die in der Vorwoche im monumentalen Wissenschaftszentrum in Bonn-Godesberg zusammenkamen, um für „Mut zu Erziehung“ zu plädieren, sahen übereinstimmend in den Entwicklungen der bundesdeutschen Bildungsszene, deren Unbehagen nun schon allerorten bemerkbar wird, die Charakteristika einer Kulturrevolution. Die auf diese fällige „Tendenzwende“ war von den selben Initiatoren, die nun eingeladen hatten, schon vor gut drei Jahren in München prognostiziert worden - zu einer Zeit, da die Anzeichen für eine solche Tendenzwende noch sehr schütter schienen.

Nicht nur „Konservative“ und „Reaktionäre“ nach der Diktion der kritisierten Linken kamen hier zusammen - einer der heftigsten Kritiker der Fehlentwicklung in der Bundesrepublik Deutschland ist der heute in Zürich lehrende Philosoph Hermann Lübbe, der sich selbst als einen „alten Sozialdemokraten“ bezeichnete und der Gefahr entgegentrat, nun alles das, was in den vergangenen eineinhalb Jahrzehnten im Bildungssektor geschehen ist, über Bord werfen zu wollen. Eine notwendige pragmatische Erneuerung des deutschen Bildungswesens sei zusammengestoßen mit der von den Theoretikern der äußersten Linken entwickelten und propagierten Emanzipations-Pädagogik. Damit werde die Kulturrevolution zum „Interferenzphänomen der Überlagerung zweier von einander unabhängige^ Erscheinungen unter typisch deutschen Bedingungen“. Das zeige sich dann daran, daß die Ausformungen der Fehlentwicklung, wie sie in der Bundesrepublik festzustellen seien, nicht in den andern deutschsprachigen Ländern - Österreich und der Schweiz -zu finden wären. Der österreichische Gast konnte nur hoffen, daß Lübbes Optimismus bezüglich der österreichischen Bildungsszene bestätigt würde...

Schon einleitend markierte der Präsident der Universität München, Nikolaus Lobkowicz, die “Marschroute der Tagung: Das verhängnisvolle Bildungsexperiment der vergangenen Jahre sei total gescheitert Man habe dabei eine Emanzipation von nahezu allem, was uns umgibt, zur Reform hochgejubelt, um wieder einmal im Namen eines endlich möglich gewordenen Heils, die menschliche Realität aus den Angeln zu heben. Man befinde sich am „erzieherischen Nullpunkt“ und müsse wieder ganz von vorne anfangen - mit der Rückbesinnung auf alle jene Werte und Tugenden, die die Kulturrevolution dieser Jahre über Bord geworfen habe.

Der „Menschenfeindliche Jargon“ und der „freche Anspruch auf alleinseligmachende Rezepturen“ der Emanzipationspädagogen hat den Eltern den Mut geraubt, ihre Kinder zu erziehen. Er schüchtere die ^Erzieher ein, untergrabe das Urvertrauen des Kindes in seine Umwelt und verletze die „eiserne Reserve menschlicher Substanz“, verurteilten der Münchner Philosoph Robert Spaemann und der Freiburger Pädagoge Kurt Aurin. Erzogenwerden sei ein Menschenrecht. Das Lernen „in veranstalteter Form“ richte den Menschen lediglich ab, warnte der Tübinger Soziologe Friedrich Tenbruck. Die Folge davon ist die neurotische Verwahrlosung der Kinder mit allen ihren Folgen bis zur erschreckend hohen Zahl von Selbstmorden Jugendlicher, deren Ursachen Christa Meves - die deutsche Sozialpsychologin, die erst vor kurzem auch in Wien aufgetreten war - vor allem auf diese Art von Pädagogik und die damit Hand in Hand gehende Zersetzung der Familie schob.

Manchen Schlag bekam die Verwissenschaftlichung der Erziehung von den protestierenden Wissenschaftern ab - so sehr, daß Bayerns Kulturminister Hans Maier bremsen mußte: Wie sonst als mit wissenschaftlicher Hilfe sollten all die Lehrpläne und Curricula entworfen werden, die die Bildungspolitik der vergangenen Jahre benötigte. Und Hartmut von Heutig, Altmeister des Experiments in der Bildungsreform, verteidigte dieses, meinte auch, nur noch mehr Reform könnte die Exzesse der Reform beseitigen. Er stand weitgehend allein -aber zeigte doch auch durch seine Anwesenheit, daß das Unbehagen bis in die Reihen der Reformer selbst gedrungen war.

Aber es ging nicht darum, Schuldige zu suchen, Sündenböcke in die Wüste zu schicken. Lobkowicz warnte davor, nun mit typisch deutscher Gründlichkeit jede Wissenschaftlichkeit und alles Experimentieren im Bildungsbereich verdammen zu wollen. Und Baden-Württembergs Kultusminister Wilhelm Hahn (CDU) erinnerte daran, daß noch nie in der deutschen Geschichte so viel für die Bildung getan worden sei, wie in den letzten 14 Jahren - aber auch nie so viel Unbehagen entstanden sei. An den Reformen seien alle beteiligt gewesen, um ihre Verwirklichung haben alle gerungen.

Sein Kollege Maier aus München erinnerte zum besseren Verständnis daran, daß heute nicht nur 30, sondern 52 Prozent aller Kinder außerhäuslich berufstätige Mütter haben und die meisten Kinder aus Kleinfamilien stammen, in denen die erzieherische Funktion der Geschwister wegfällt. Hier mußte die Schule einspringen -aber umso mehr muß sich der Lehrer zu seiner Erzieheraufgabe bekennen. Mut zur Erziehung bedeute Mut zur Persönlichkeit, zum Charakter, zu Freundschaft und Erfahrung. Mut zur Selbstverständlichkeit.

In neun Thesen versuchte man schließlich, die Leitlinien für den Ausweg aus der Krise festzulegen. Da wandte man sich zunächst gegen den Irrtum, die Mündigkeit, zu der die Schule erziehen solle, läge im Ideal einer Zukunftsgesellschaft vollkommener Befreiung - gerade dadurch werde die lebenslange Unmündigkeit begründet. Die Erziehung dürfe die Kinder nicht ermutigen, „Glücksansprüche“ zu stellen, denn „Glück folgt nicht aus der Befriedigung von Ansprüchen, sondern stellt sich im Tun des Rechten ein.“ Die Erziehung müsse wieder auf die alten Tugenden des Fleißes, der Disziplin und der Ordnung gerichtet sein, nicht aber auf einen vorgegebenen Hyper-Kritizis-mus: „Zum kritischen Widerstand gegen ideologische Verführer ist nur fähig, wer sich durch seine Erziehung mit Vorgegebenheiten in Ubereinstimmung befindet.“

Die Kinder dürften nicht angeleitet werden, ihre Interessen wahrzunehmen, hieß es weiter, denn bevor man eigene Interessen wahrnehmen könne, müsse man in Lebensverhältnisse eingeführt sein, in denen sich eigene Interessen erst bilden.“ Sinnvolle Erziehung müsse von der Einsicht ausgehen, daß die menschlichen Begabungen verschieden seien. Die Schule dürfe nicht als Reforminstrument der Gesellschaft mißbraucht werden, denn keine Gesellschaft kann eine Schule als ihre eigene anerkennen, die die Schüler eine ganz andere Gesellschaft als ihre eigene anzusehen lehrt.

Schließlich war man der Ansicht, daß der Verwissenschaftlichung der Erziehungsprozesse Einhalt geboten werden müßte. Die Erziehung sei keine ausschließliche Angelegenheit von pädagogischen Profis. Allen Eltern müßte wieder Mut gemacht werden, ihre Kinder auch selbst zu erziehen.

Soweit das - vorläufige - Ergebnis der Bonner Zusammenkunft. In den Couloirs des supermodernen* Betonkastens raisonnierte so mancher der Eingeladenen, der angesichts des gepreßten Programms und der Vielzahl der Referenten in der Diskussion nicht zu Wort gekommen war, daß man all dies schon seit zehn Jahren predigt. Sicherlich - ohne dieses schon lange gärende Unbehagen, ohne diese seit langem geäußerten Unmutsbezeigun-gen wäre auch diese Tagung nicht möglich gewesen. Sie aber sollte dazu dienen, das Ereignis in der Öffentlichkeit zu setzen, von dem aus nun die Kettenreaktion weiterlaufen müßte.

Bundespräsident Walter Scheel und Bundestagspräsident Karl Carstens saßen den halben Nachmittag und bis in die späten Abendstunden unter den Teilnehmern und diskutierten eifrig mit. Carstens wies am Tag darauf in einem Pressegespräch (das sich um ganz andere Probleme rankte) spontan auf die Wichtigkeit der im Wissenschaftszentrum diskutierten Probleme.

Auch die Kirchen hatten ihre Beobachter entsandt. Sie mußten die Kritik entgegennehmen, auch keine Antwort auf die gärenden Fragen gegeben, zu sehr auf einen Mindestkonsens hingezielt zu haben. Aber immerhin, auch wenn dem so ist - die katholische Kirche in Deutschland hat ihre tausend Privatschulen in den letzten Jahren um weitere 50 vermehrt, um den wachsenden Bedarf zu decken - auch dort fliehen immer mehr Eltern dorthin, wo ihnen eine menschengerechte Erziehung für ihre Kinder noch gewahrt scheint.

Und die Schlußfolgerungen für Österreich: Lübbe hatte recht, daß hier die Auswirkungen linksradikaler Pädagogik mit jenen in Deutschland nicht zu vergleichen sind - oder noch nicht? Ist dies nur bewirkt durch den üblichen „timelag“, durch das zeitliche Nachhinken hinter den Entwicklungen beim nördlichen Nachbarn oder tatsächlich durch das Fehlen der typisch deutschen, in der ganzen Nachkriegsgeschichte wurzelnden Umstände? Auf jeden Fall sollte das Bonner Symposion auch uns zum Nachdenken anregen.

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