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Teure Waben

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Soziologen, Psychologen, Kinderärzte und auch immer mehr Architekten wettern gegen die Wohnhochhäuser. Der internationale Trend kehrt sich mehr und mehr von ihnen ab. In Oberösterreich sollen Wohnbauten mit mehr als sechs, in Ballungsgebieten acht Stockwerken nicht mehr aus Landesmitteln gefördert werden. Auch im Bautenministerium machen sich deutliche*Anzeichen eines Umdenkens bemerkbar. Nur Wiens Stadtväter sind noch von naivem Stolz auf ihre himmelragenden Wohnwaben erfüllt.

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Soziologen, Psychologen, Kinderärzte und auch immer mehr Architekten wettern gegen die Wohnhochhäuser. Der internationale Trend kehrt sich mehr und mehr von ihnen ab. In Oberösterreich sollen Wohnbauten mit mehr als sechs, in Ballungsgebieten acht Stockwerken nicht mehr aus Landesmitteln gefördert werden. Auch im Bautenministerium machen sich deutliche*Anzeichen eines Umdenkens bemerkbar. Nur Wiens Stadtväter sind noch von naivem Stolz auf ihre himmelragenden Wohnwaben erfüllt.

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Ein nicht besonders kalter, nur leicht nebliger Sonntagvormittag. Auf den Straßen in unmittelbarer Nachbarschaft der neuen Wohnbauten auf den Trabrenngründen sowie im Gelände hegt reichlich Schnee. Auf den Zementplatten zwischen den Wohnblöcken hallt jeder Schritt. Aber obwohl die Wohnungen schon bezogen sind, trifft man nur dann und wann Menschen.

Was sich zwischen all diesem Beton Kinderspielplatz nennt, ist ebenfalls spärlich frequentiert. Aber auch auf den unverbauten Flächen neben der gewaltigen Anlage sieht man wenige Kinder. Dabei müssen in all den Wohnungen doch viele Kinder wohnen.

Warum bleiben sie zu Hause?

Ein großer Teil der immer vehementer gegen den Bau weiterer Wohnhochhäuser vorgebrachten Argumente bezieht sich auf deren kinderfeindliches Klima. Dabei ist häufig die Rede davon, daß vor allem jene Kinder, die einerseits noch nicht allein mit dem Aufzug fahren können oder dürfen, anderseits aber, würden sie in einem niedrigeren Haus wohnen, schon allein ins Freie laufen könnten, in Wohnhochhäusern, vor allem in den oberen Stockwerken, unter einem Mangel an Bewegungsmöglichkeiten leiden.

Die Mutter eines Sechsjährigen in der Wiener Großfeldsiedlung sagte zu uns: „Ich lasse ihn nicht gerne allein mit dem Aufzug fahren, bringe ihn aber jederzeit hinunter, wenn er es will, und hole ihn auch wieder herauf. Aber er will nicht! Was habe ich schon in das Kind hineingeredet, ihm erklärt, daß er frische Luft braucht und Bewegung- er behauptet, daß er keine anderen Kinder kennt und daß es ihm in der Wohnung besser gefallt. Dann stellt er mir die Wohnung auf den Kopf, und macht mich mit seinem Lärm nervös. Ich habe als Kind ganze Tage im Freien verbracht -warum will mein Kind nicht ins Freie?“

Die FURCHE bat eine Reihe von Fachleuten um ihre Meinung zum Thema Wohnhochhaus. Das Ergebnis kann nur als äußerst negativ für die gegenwärtig betriebene Wohn-

„Draußen sehen sie nur Beton und Häßlichkeit“

baupolitik gewertet werden. Kinderpsychologen und Kinderärzte beurteilen das Wohnen im Hochhaus heute in internationalem Gleichklang unisono negativ.

Primarius Universitätsprofessor Hans Czermak, der jahrelang einen erbitterten Einmannkrieg gegen Österreichs viel zu hohe Säuglingssterblichkeit führte, bis es endlich zur Einführung des Mutter-Kind-Passes kam, wundert sich überhaupt nicht, wenn Kinder in Hochhäusern zu Stubenhockern werden: „Eines der wichtigsten Bedürfnisse des Kindes ist Bewegung, und seit Jahrhunderten wurde der Bewegungsdrang des Säuglings durch eine falsche Wickeltechnik eingeengt. Heute werden viele Säuglinge richtiger gewickelt, dafür wachsen sie dann in viel zu kleinen, engen, niedrigen Wohnungen in immer höheren Häusern heran und kommen selbst dort wenig ins Freie, wo sie selbst hinuntergehen könnten, weil es in der Wohnung ja immer noch schöner ist. Denn draußen sehen sie nur Beton und Häßlichkeit, was man an sogenannten Kinderspielplätzen errichtet, ist eine Katastrophe, für Kinder

völlig ungeeignet, und Sozialkontakte werden in dieser anonymen Umwelt auch für Kinder zum Problem. Besucht man Menschen in solchen Häusern, hört man oben und unten, rechts und links Kindergeschrei, aber niemand denkt daran, wie man diese vereinsamten Kinder zusammenbringen könnte. Warum schafft man nicht wenigstens Gemeinschaftsräume für sie, damit wenigstens die Kinder ein Sozialverhalten einüben können, das den Großen nicht zuletzt deshalb abgeht, weil die Isolierung in zu kleinen Wohnungen mit zu enger Nachbarschaft Angst erzeugt, die ihrerseits zu Kontaktscheu führt, womit sich der Teufelskreis schließt?“

Primarius Universitätsprofessor Andreas Rett wiederum registriert, abgesehen von allen anderen Einwänden gegen das Hochhaus, die er mit den anderen Fachleuten teilt, in der Aufzugsbenützung durch Kinder einen Negativfaktor für deren Entwicklung, auf den sonst kaum hingewiesen wird: „Die Stiegen in den niedrigen Wohnhäusern bilden immerhin einen Ersatz für die zu überwindenden Höhenunterschiede im Gelände, Klettermöglichkeiten und so weiter in der natürlichen Umwelt. Bei Kindern, die so hoch wohnen, daß man ihnen das regelmäßige Stiegensteigen nicht mehr zumuten kann oder will, entstehen Schwierigkeiten bei der Ausbildung des Bewegungsapparates, noch so viel Tollen auf ebenen Spielplätzen schafft da keinen Ausgleich. Es fehlt bei diesen Kindern ferner die Erfahrung des Körpers bei der Höheneinschätzung, denn das Körperschema eines Kindes, das zum Beispiel zweimal täglich zwei, drei oder vier Stockwerke überwindet, stellt sich auf die Höhe ein, der Körper entwickelt die Fähigkeit, seine Position im Raum zu definieren. Im Schulalter ist es zu spät, hier Versäumtes nachzuholen. Frühkindliche Prägungen sind besonders wesentlich, bei Hochhauskindern läuft eine andere Entwicklung ab.

Aber auch die zu große Distanz zum Geschehen auf der Straße beim Bück aus dem Wohnungsfenster wird von Primarius Rett für Fehlentwicklungen mitverantwortlich gemacht: „Die Beobachtung fremder Umwelt aus geschützter Position liefert in Verbindung mit Gehöreindrücken entscheidende Prägungen.“

Rett hält es daher für sehr richtig, wenn Menschen ohne Kinder lieber in die höhergelegenen, Familien mit Kindern in tiefergelegene Wohnungen ziehen. Die Weigerung vieler Kinder, hinunterzugehen, ist auch ihm nicht fremd. Fazit: „Es gibt heute eine Fülle von Untersuchungen über das Leben in Hochhäusern, vor allem in den USA, wo man über ein viel umfangreicheres Erfahrungsmaterial verfügt. Die Zahl der Neurosen steigt sozusagen von Stockwerk zu Stockwerk an. Daß insbesondere im Hochhaus heranwachsende Kinder Schwierigkeiten bei der seelischen und nervlichen Anpassung haben und verschiedene Formen von Fehl-verhalteh entwickeln, ist eine Tatsache, die schon vor Jahren an einer sehr großen Population festgestellt wurde.“

Aber auch für die Erwachsenen ist das Hochhaus nur in den seltensten Fällen ein optimaler Lebensraum. Eine typische, in den oberen Stockwerken beobachtete Erscheinung ist die Abneigung der Bewohner, in großverglasten Räumen ganz nahe an die Verglasung heranzutreten -selbst wenn Panzerglas verwendet wurde. Es entstehen auf diese Weise ungenützte Raumzonen.

„Die schöne Aussicht gefällt mir natürlich“, sagte uns eine junge Mutter, die eine Wohnung in der vor wenigen Jahren fertiggestellten Wohnanlage der Gemeinde Wien zwischen Donaustadt- und Erzherzog-Karl-Straße bezogen hat, „und die Wohnung ist auch sehr schön und bequem, aber ich gehe nicht gerne auf den Balkon und habe es auch nicht gerne, wenn meine Tochter dort spielt. Dabei kann ihr gar nichts passieren. Ich glaube, es ist meine eigene Angst vor der Tiefe, die mich dauernd irritiert.“

Auch die Soziologie hat längst die theoretischen Schlußfolgerungen aus Erfahrungen gezogen, denen

„Je höher das Haus, desto höher die Verbrechensrate“

etwa die Menschen in den Wohnstädten auf den Wiener Trabrenngründen oder in der Großfeldsiedlung täglich konfrontiert sind.

„Wohnhochhäuser sind“, erklärte uns Soziologie-Ordinarius Erich Bodzenta, „kriminogen und pathogen. Einen Hinweis in erstgenannter Richtung liefern zum Beispiel die vielen kleinen Zerstörungen, Beschädigungen und Bekritzelungen, die in Hochhäusern signifikant häufiger auftreten als in kleineren, gegliederten Wohnformen. In ihnen drückt sich ein Mißbehagen der Bewohner aus, sie sind Symptome. Signifikant häufiger sind aber auch Neurosen, ist die Selbstmordrate, sind . Phobien und viele nicht näher einstufbare Vereinsamungserscheinungen, also die psychische Anfälligkeit im allgemeinen.“

In der deutschen Bundesrepublik ist es bereits soweit, daß in manchen Städten die Kriminologen ein Mitspracherecht bei der Stadtplanung fordern, um rechtzeitig auf Fehlentwicklungen hinweisen zu können. Im amerikanischen St. Louis wurden durchaus noch bewohnbare, aber total verslumte Wohnblocks, in denen eine anwachsende Kriminalitätsrate immer mehr Bewohner vertrieben hatte und die zu anders nicht mehr sanierbaren Kriminalitätsherden geworden waren, einfach gesprengt und eingeebnet.

Aber auch in Osterholz-Tenever bei Bremen, wo in 22 Stockwerke hohen Wohnblocks in 2600 Wohnungen 7000 Menschen leben, registriert die Polizei deutlich erhöhte Verbrechensraten, insbesondere eine signifikant er-

höhte Jugendkriminalität und starken Vandalismus.

Einst wurde Opposition gegen Wohnhäuser als Provinzialismus und Ausdruck einer antiurbanen Haltung verdächtigt. Heute liefert gerade Amerika, das Land, in dem der Hochhausbau erfunden wurde, Argumente gegen diese Fehlentwicklung. US-Fachleute warten mit verläßlichen statistischen Unterlagen auf, wonach sich in Wohnbauten mit über 13Geschossen(beieinersolchen Höhe sind wir längst auch in Wien angelangt!) jährlich 68 Straftaten pro tausend Familien, in Häusern bis zu drei Etagen aber nur 30 Straftaten ereignen.

Und ein US-Experte, Oscar New-man vom New Yorker Institut für Städtebauanalyse, prägte die Formel: „Je höher das Haus, desto höher die Verbrechensrate!“

In den gewaltigen, himmelragenden neuen Wohnsilos in Alt-Erlaa registrierten anderseits Meinungsforscher einen hohen Grad von Wohnzu- • friedenheit. Die Zahlen, in denen sich diese Wohnzufriedenheit ausdrückt, fanden selbstverständlich den Weg in die Presse. Ebenso selbstverständlich fand diesen Weg nicht die im betreffenden IFES-Bericht ausdrücklich niedergelegte Einschränkung, gültige Ergebnisse würden erst durch weitere Untersuchungen nach frühestens drei Jahren zu erzielen sein.

Erich Bodzenta erläutert dies an Hand der Theorie der kognitiven Dissonanz: „Wenn man viel für eine Sache aufgewendet hat, ist man zunächst nicht in der Lage, Kritik an ihr zu üben. Wir wissen aus einer Reihe von Untersuchungen, daß es so ist. Die Meinungsbefragungen unmittelbar nach dem Einzug sind wichtig -um die Ergebnisse mit den Resultaten späterer Untersuchungen vergleichen zu können.“

Freilich könnten Versuche, in Alt-Erlaa vom Start weg so etwas wie ein Gemeinschaftsbewußtsein und ein soziales Miteinander aufzubauen, dazu beitragen, das subjektive Wohlbefinden zu erhöhen. Überdies fehlt gerade Alt-Erlaa jene Trostlosigkeit, die etwa auf den Trabrenngründen und bei anderen Projekten der Gemeinde Wien nicht so sehr von der absoluten Bauhöhe wie von der kru-den Anti-Ästhetik der Anlagen herrührt.

„Ich bin mit meiner Wohnung recht zufrieden“, erklärte uns einer der neuen Trabrenngründe-Bewohner, „denn ich genieße aus meiner Wohnung einen schönen Fernblick. Die Leute, die aus ihren Fenstern nur

wieder in andere Fenster schauen, tun mir leid!“

Der Psycho-Horror der totalen Verbetonierung resultiert nämlich nicht so sehr aus der Bauhöhe -Punkthäuser haben, für bestimmte Menschengruppen, hohen Wohnwert. Er resultiert aus der räumlichen Nachbarschaft zu vieler Bauten, aus der Übertragung des alten Gemeindebau-Schemas (das in überschaubarem Rahmen blieb) ins Megalomani-sche.

Auch Wiens Stadtväter preisen ihre Kreationen nicht mehr unbedingt als das Schönste und Beste, argumentieren mit wirtschaftlichen Zwängen. Unterdessen macht auch die internationale Architektenschaft, soweit sie sich nicht auf das Geldverdienen beschränkt, Front gegen das Wohnhochhaus.

„Das Hochhaus ist erheblich erschüttert“, erklärte uns etwa der emeritierte Professor für Städtebau und Entwerfen an der renommierten Grazer Technischen Hochschule, Hubert Hoffmann, „es ist vor allem familienfeindlich, allenfalls als Wohnstätte für alleinstehende Menschen und kinderlose Ehepaare geeignet, aber auch für sie nur vorübergehend, denn das Wohnen im Hochhaus ist für jedermann ungesund. Und zwar um so mehr, je höher man wohnt. Jedes Hochhaus vibriert, und gerade die feinen, bewußt nicht mehr wahrgenommenen Vibrationen haben äußerst negative Auswirkungen auf das vegetative Nervensystem.“

Der Mann, der auf diesen Effekt als erster aufmerksam machte, und dessen zweibändiges Werk „Medizin und Städtebau“ nach wie vor als Standardwerk gilt, war Professor Paul Vogler, der, als Arzt, zugleich Mitglied des (ironischerweise von Cor-busier, einem Vorkämpfer des Hochhauses, präsidierten) Congres International d'architecture moderne“ (CIAM) war.

Auch ausländische Kapazitäten, wie etwa Professor Gerhart Laage, der den Lehrstuhl für Theorie der Architekturplanung in Hannover innehat, beantworten die Frage, ob

„Der Bau von Wohnhochhäusern ist nicht mehr zu verantworten“

Wohnhochhäuser heute noch verantwortet werden können, mit einem „klaren Nein“: „Es gibt natürlich Menschen, die gern im Hochhaus wohnen, aber nur eine kleine Zahl, drei bis vier Prozent. Die Mehrzahl will so nicht leben, dies ist heute durch eine Fülle wissenschaftlicher Untersuchungen erwiesen, und besonders auch die Nachteiligkeit des Hochhaus-Wohnens für Familien mit Kindern ist heute erwiesen. Das Hochhaus ist weder wirtschaftlich noch sozial vernünftig, der Bau von Wohnhochhäusern ist nicht mehr zu verantworten.“

Verantwortlich dafür, daß sie nach wie vor gebaut werden, sind wirtschaftliche Interessen: Das geschlossene Verbetonieren relativ kleiner Flächen mit möglichst hohen Bauten ist für den Bauherrn, für die Baufirmen und Architekten am gewinnbringendsten.

Nicht aber für die Gemeinschaft, der die Folgekosten zur Last fallen -von den Infrastrukturen, für die sie aufkommen muß, bis zu den wirtschaftlichen Folgen von Krankheit und Kriminalität.

Jener Theoretiker, der als erster, gleich nach dem Zweiten Weltkrieg, den Beweis erbrachte, daß Flachbauten mit eigenem Innenhof für jede Familie keine Utopie darstellen, sondern ökonomisch möglich sind, lebt in Wien: Professor Roland Rainer. Seine Mustersiedlungen entstehen freilich in Linz. Denn Wien ist auf seinen ehemaligen Stadtplaner böse.

In seinem neuen Buch „Kriterien der wohnlichen Stadt“, weist er - unter anderem - neuerlich auf die Bodenspekulation als eine der Haupttriebkräfte hinter dem Hochhausbau hin. Ein Grund, noch böser auf ihn zu sein.

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