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Thatchers unvollendete „Revolution“

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Am 9. Juni wählt Großbritannien ein neues Parlament. Es wird dies vor allem auch eine Abstimmung über den „Thatcherismus“, jene beinhart durchgezogene Wirtschaftspolitik, die die Gesundung der britischen Ökonomie herbeiführen soll, die aber gleichzeitig Millionen arbeitslos auf der Strecke läßt.

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Am 9. Juni wählt Großbritannien ein neues Parlament. Es wird dies vor allem auch eine Abstimmung über den „Thatcherismus“, jene beinhart durchgezogene Wirtschaftspolitik, die die Gesundung der britischen Ökonomie herbeiführen soll, die aber gleichzeitig Millionen arbeitslos auf der Strecke läßt.

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Die Großen erwiesen der einzigen Frau im Kreis der acht von Williamsburg ihre Reverenz; Thatcherismus, so wurde bestätigt, helfe mit, die weltweite Krise zu beseitigen. Es spricht nicht gegen Thatcher, dr.ß sie sich im Kreml innigster Unbeliebtheit erfreut: Verteidigungspolitik, auf Stärke und eigene Schlagkraft ausgerichtet, ist der Sowjetführung genauso ein Dorn im Auge, wie der Einsatz der britischen Premierministerin zur Achtung der Menschenrechte.

In ihrer Heimat wird die erste Frau in der Downing Street Nr. 10 mehr und mehr mit dem Führer im Krieg, Winston Churchill, ver-

glichen, der militärische Sieg im Südatlantik tut es dem Sieg von 1945 gleich. Und seit Winston Churchill hat es keinen britischen Premier mit so starker Willenskraft, solcher Zielgerichtetheit und Entschlossenheit mehr gegeben.

Dabei hat sich Thatcher die Staatsführung nicht durch falsche Versprechen erschlichen, obwohl freilich ein Großteil nicht, noch nicht eingelöst worden ist. Hatte Macmillan zu seiner Zeit seinen Bürgern vorgerechnet: „Es ging uns noch nie so gut“, so mußte Thatcher das Gegenteil behaupten.

Und noch eine Gemeinsamkeit mit Churchill: Beide haben ihre Regierung in einer Zeit tiefster Krise angetreten, in Nöten, die zu unwillkommenen und unpopulären Maßnahmen zwangen, die freilich auch den Bürger zu größerer Einsicht veranlaßten. Ein hartes Austeritätsprogramm, um den wirtschaftlichen Abfall der Insel aufzuhalten, umzukehren, war nötig, und das hat schließlich vielen einiges genommen: den Unbegüterten mehr als den Begüterten.

Thatcher als Arzt der Gesellschaft, um die „englische Krankheit“ mit einer Medizin zu heilen, die in der Apotheke zweier Nobelpreisträger ersonnen worden ist: des in Wien geborenen Friedrich Hayek und des Amerikaners Milton Friedman.

Was diese vielzitierte Krankheit war und noch ist, sofern nicht Abhilfe geschaffen worden ist? Schreckliche Unwirtschaftlichkeit und Vergeudung, scheinbare Beschränkung der Arbeitslosigkeit durch Uberbesetzung der Stellen, was sich wieder auf die Kosten und die Konkurrenzfähigkeit niederschlug, schlechtes Management.

Darüber hinaus anarchisches Treiben der Gewerkschaften, die von jeder Labourregierung durch immer neue Privilegien geködert worden waren. Die aber hielten nicht Wort und zeigten in Lohnverhandlungen wenig Kompromißbereitschaft.

Heute sind nicht mehr die Symptome im Blickwinkel, wohl aber die harte Kur, die von der energischen Regierungschefin angeordnet worden war. Konkurrenzfähigkeit, Effizienz wurde nur erreicht, indem unwirtschaftliche Betriebe in den Bankrott getrieben wurden. Freilich nicht alle: In die nationalisierten Unternehmen mußte Thatcher widerwillig enorme Summen pumpen, um sie am Leben zu erhalten.

Ein wirtschaftliches Unternehmen ist nun einmal einem geringeren Risiko ausgesetzt, wenn der Staat dahintersteht und die finanziellen Lücken füllt. Die Privatindustrie muß auf einen solchen Rückhalt verzichten, und sie litt besonders, obwohl sie Thatchers Lieblingskind ist und bleibt.

Was sich mit den Termini „Monetarismus“ und „Thatcheris-I mus“ verbindet, ist die Gewichtung auf die finanzielle Seite der Wirtschaft: Inflationsbekämp fung hat absoluten Vorrang vor der traditionellen Garantie auf Vollbeschäftigung. Diese ist in allen Wirtschaftsräumen heutzutage nur mehr ein unerfüllbarer Traum. Das dürften die britischen Bürger in ihrer Mehrheit eingesehen haben, trotz der fatalen Folgeerscheinungen: dem gedrängten Arbeitsmarkt und der Rekordlänge der Schlange von Beschäftigungslosen.

Thatchers oberstes Ziel ist die

Schaffung von „Gesundem“. Von Wertverlust freies Geld soll die Industrie befähigen, die freigewordene Arbeitskraft allmählich aufzusaugen. Wenn die Industrie ermutigt werde, gut und billig zu produzieren, würden mehr Güter erzeugt, die einer gesteigerten Nachfrage gegenüberstünden. In der Folge lindere sich auch die Arbeitslosigkeit.

Ob diese Rechnung aufgeht, ist noch ungewiß. Glaubt man den Voraussagen der bis dato verläßlichen Cambridge Economic Policy Group, dann wird es in zehn Jahren nicht über drei Millionen arbeitslose Briten geben — wie heute — sondern deren fünf.

In Teilbereichen zeigen sich Wirkungen wenigstens im Ansatz: in der Ägide Thatcher arbeiten um 31 Prozent weniger Arbeiter in der Metallindustrie, dafür ist die Beschäftigung in der Branche Elektronik um 42 Prozent gestiegen.

Die schonungslose Härte und Zielstrebigkeit, mit der Thatcher ihr Programm durchzieht, ringt auch dem Bürger Achtung ab. Dazu die Überzeugung der Regierungschefin, daß nur ihr Weg der richtige sei: „Es gibt keine Alternative!“-

Anfangs freilich wollte die Strategie der Inflationsbekämpfung einfach nicht im vorgesehenen Maße einsetzen. Sie besteht darin, das Budgetdefizit im Ver hältnis zum Volkseinkommen zu schmälern, in erster Linie durch rigorse Sparmaßnahmen und wachsende Einschränkung des Wachstums der Geldversorgung. Als Resultat mußte in der That- cherrechung die Inflation zurückgehen.

Das Gegenteil geschah, weil die Ausgabenlimits überschritten wurden und die ersten Regierungsmaßnahmen Thatchers die Geldentwertung beschleunigten statt verzögerten. Die Inflation hob sich von zehn auf 21 Prozent in „italienische Sphären“, Zinssätze blieben oben, jede Investition ungemein verteuernd.

Der unschätzbare Segen des eigenen Nordseeöls erwies sich als wirtschaftlicher Bumerang: Das Pfund erhärtete sich zu einer Pe- trowährung und verteuerte die Exporte. Heere von Arbeitslosen wurden aus den gestrafften Industrien gepreßt. Schließlich schienen nur Thatcher und ihr engstes Team allein noch an die Wirksamkeit zu glauben.

Dann begann auch der Widerstand im eigenen Kabinett zu wachsen. Doch Thatcher fand ihren eigenen Ausweg: Statt der Kritik stattzugeben, feuerte sie 1981 die Kritiker und ersetzte diese durch eingefleischte Anhänger.

Thatcher auch im Glück: Die Oppositionspartei Labour brachte sich durch wütende innere Auseinandersetzung selbst um die Chance, die Regierungschefin unter Druck zu setzen. Heute kommt die Selbstanklage zu spät: Zeitvergeudung durch Flügelkämpfe,

Unterschätzung der Persönlichkeit Thatchers.

Unter dem zögernden Führer Michael Foot wurden die Gemäßigten zum Exodus getrieben und die Partei in den Sog des linken Extremismus getrieben. Die Geburt der sozialdemokratischen Partei schien das wirksame Gegengewicht gegen Thatcher auf der einen, Linksführer Tony Benn auf der anderen Seite.

Die Herausforderung des Falklandkrieges kam wie gerufen zur Rettung Thatchers und veränderte erneut die Szenerie: Die Konservativen als die eigentlichen Sieger verbesserten schlagartig ihre Situation, die Popularitätskurve blieb über 14 Monate auf nie dagewesener Höhe.

Der sogenannte „Falklandfaktor“ kam zum Tragen: Der Siegerin im Südatlantik wurde auch die Fähigkeit zugeschrieben, die Wirtschaftsmalaise zu beseitigen. Die hauseigene wie die Weltrezession brachte die Gewerkschaften zum Schweigen, die eigenen Mitglieder, um ihren Arbeitsplatz besorgt, machten nicht mehr mit.

Seitdem entsinnt sich Thatcher der Geschichte, legt ihren Bürgern die Einhaltung viktorianischer Tugenden ans Herz: Sparsamkeit, Familie, Strebsamkeit, Selbstachtung. Solche Reminiszenzen an die goldenen Zeiten des britischen Imperiums gehören ins Repertoire ihres Kreuzzuges, der auch die Moral einschließt.

Der Falklandkrieg hat trotz seiner schweren Opfer die Nation wieder mit Selbstvertrauen ausgestattet. Heute ist die Wirtschaft produktiver, schlagkräftiger, wenn auch vom Ideal noch weit entfernt — ein Ideal, das von Mitteleuropa oder Japan geliefert wird. Die Inflation ist mit vier Prozent die niedrigste seit 15 Jahren. In den letzten zwanzig Jahren unvorstellbar: Arbeiter geben sich mit einem geringeren Lohn zufrieden.

Es ist nicht leichter und angenehmer geworden, in Thatchers Land zu leben: Sieben Millionen, also etwa ein Siebtel der Bevölkerung, leben an oder unter der Armutsgrenze. Die Kriminalität war vorher noch nie so hoch.

Thatchers Großbritannien hat die schwersten Unruhen und Aufstände gesehen, vorgetragen von den Parias der Gesellschaft: den Farbigen, die einst als billige Arbeitskraft von den Dominions auf die Insel geholt wurden, und jenen, die ohne regelmäßige Beschäftigung leben müssen.

Die „Thatcherrevolution“ ist unvollendet: die wirtschaftliche sowohl wie die moralische, der sie sich mit unerschöpflicher Energie verschrieben hat.

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