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Theorienstreit: Arche Noah oder Kandelaber?

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Wo ist der Mensch entstanden, wie hat er die Erde erobert? Hypothesen und Theorien wuchern üppig. Wissenschaftler schwingen verbale Keulen. Nur in einem Punkt sind alle Lager einig: Die Wiege der Menschheit stand in Ostafrika. Von dort aus eroberte der Mensch den Rest der Welt.

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Wo ist der Mensch entstanden, wie hat er die Erde erobert? Hypothesen und Theorien wuchern üppig. Wissenschaftler schwingen verbale Keulen. Nur in einem Punkt sind alle Lager einig: Die Wiege der Menschheit stand in Ostafrika. Von dort aus eroberte der Mensch den Rest der Welt.

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Brian M. Fagan, Anthropologie-Professor an der University of California, versucht in seinem Buch „Aufbruch aus dem Paradies" (Verlag C.H. Beck, München) der „Kandelaber-Theorie" den Todesstoß zu versetzen. Er stellt ihr die "Arche-Noah-Theorie" gegenüber. Mit anderen Worten: Multiple Menschheitsentstehung beziehungsweise Anthro-pogenese („Kandelaber") kontra monogenetische Anthropogenese („Arche Noah").

Eine alte Streitfrage: Verließen schon die Vorfahren des Homo sapiens sapiens Afrika und entwickelten sich isoliert voneinander an verschiedenen Stellen weiter? Entstand demnach das Spektrum heutiger menschlicher Erscheinungsformen aus Wurzeln, die sich bereits vor mindestens 700.000 Jahren verzweigten? In diesem Fall gliche unser Stammbaum tatsächlich einem Kandelaber, einem mehrärmigen Leuchter mit kurzem Sockel.

Die „Arche-Noah-Schule" oder „Adam-und-Eva-Theorie" hingegen meint, daß die Nachkommen einer verhältnismäßig kleinen Gruppe anatomisch modemer Menschen vor rund 200.000 Jahren begannen, von Afrika aus andere Weltgegenden zu besiedeln. In diesem Fall hätten alle heute lebenden Menschen gemeinsame Vorfahren und der Neandertaler wäre ebenso ausgestorben wie der Pekingmensch.

Beide Lager berufen sich auf einen Zeugen, der nicht mehr sprechen kann und es im heutigen Sinn wahrscheinlich auch nie konnte. Neandertaler, was hast du uns zu sagen? Bist du unseresgleichen oder doch etwas ganz anderes? Noch kurz vor dem Zweiten Weltkrieg sahen die meisten Neandertaler-Rekonstruktionen ziemlich äffisch aus. Zahllose Funde führten zu einer gründlichen Revision. Der Neandertaler kannte ein ganzes Arsenal steinerner Werkzeuge. Er bewohnte zehntausende Jahre lang zeitweise ganz Europa und große Teile des Nahen Ostens. Er war kleiner und gedrungener als die späteren „Mitbewerber", aber ein guter Läufer, benützte das Feuer, kleidete sich in Felle, kam dank Vorratshaltung über den Winter, der in der späten Eiszeit acht bis neun Monate dauerte und begrub seine Toten mit Grabbeigaben. Er war allerdings ein weniger geschickter Jäger und überhaupt ein viel unmoderneres Modell als die später auftauchende Konkurrenz.

Im Kandelaber-Modell könnte der Neandertaler durchaus einen Platz in der Vorfahrenreihe des Menschen einnehmen und lange Zeit wurde er denn auch als Vorfahr von Homo sapiens sapiens gesehen. Aber mit der Dichte der Knochenfunde, bislang einige hundert, wurden die anatomischen Unterschiede immer deutlicher. Trotzdem reichen morphologische Befunde, Skelett-Untersuchungen, nicht aus, die Arche-Noah- oder Adam-und-Eva-These zu verifizieren, wonach der Neandertaler ein Nachfahr von Afrikanern war, die lang vor den Ahnen aller heutigen Menschen ausschwärmten. Und die es zwar weit brachten, dann aber doch ohne Nachkommen verschwanden. Niemand kann sagen, wie weit der Neandertaler sein Entwicklungspotential auszuschöpfen vermochte. Haben ihm schlicht und einfach Geschicktere den Garaus gemacht? Wenn ja - auf welche Weise? Haben unsere Vorfahren den altmodischen Vetter verdrängt, umgebracht oder gar als leckeres Wild verspeist?

Immer weniger Anthropologen geben dem Kandelaber-Schema eine Überlebenschance. Das wichtigste Argument zu dessen Gunsten, vertreten etwa von dem Amerikaner Mil-ford Wolpoff, ist die Frage nach dem Verbleib früherer Menschen und Vormenschen, des Pekingmenschen und anderer, vor allem aber des Neandertalers. Mittlerweile widmen sich aber auch Mikrobiologen und Genetiker der Frage nach der Abstammung des „Jetztmenschen".

Brian M. Fagan und die anderen Vertreter der monogenetischen Anthropogenese berufen sich unter anderem auf die Genfrequenz-Analysen von Luigi Luca Cavalli-Sforza und die Untersuchungen menschlicher und tierischer Mitochondrien durch Allan Wilson. Die Mitochondrien sind einerseits ein für diese wichtiger Teil der menschlichen und tierischen Zellen, andererseits aber selbständige einzellige Lebewesen mit eigener DNS. Sie sind verhältnismäßig leicht zu analysieren, und da sich ihre Erbsubstanz um ein mehrfaches schneller verändert (mutiert) als die der Wirtszelle, können sie als "genetisches Kurzzeit-Gedächtnis" fungieren.

Wilson und seine Mitarbeiter isolierten in der Mitochondrien-DNS von Menschen mit Vorfahren aus aller Welt, von Amerika bis Ostasien und von Afrika bis Europa und Neuguinea, 133 DNS-Typen, die, entsprechend ihrem DNS-Verwandtschaftsgrad, mit Computerhilfe auf einem genetischen Stammbaum der derzeit lebenden Menschheit angeordnet wurden. Bis auf sieben DNS-Typen landeten alle an Zweigen, die auf einen einzigen Abstammungsast zulaufen. Er vereinigt das DNS-Material der Nachkommen von Menschen aus fünf geographischen Bereichen. Die restlichen sieben DNS-Typen befinden sich an einem zweiten Ast und stammen durchwegs von afrikanischen Babies.

Dort, wo sich die beiden Äste in grauer Vorzeit trennten, wäre Eva oder die Überlebende der „Arche Noah" zu lokalisieren. Die Mutationsrate der Mitochondrien-DNS beträgt zwei bis vier Prozent pro Jahrmillion. Nach den ersten „Rückrechnungen" von Wilson und dessen Mitarbeiterin Rebecca Cann hätte die Urmutter des Homo sapiens sapiens vor 143.000 bis 285.000 Jahren in Afrika gelebt und die Trennung der Auswanderer vonden Zurückbleibenden vor90.000 bis 180.000 Jahren stattgefunden. Nach einer Verfeinerung der Untersuchungsmethoden gab Wilson eine Korrektur bekannt. Demnach hätte Eva vor nur etwa 140.000 Jahren gelebt.

Rebecca Cann ist zurückhaltender und hält lediglich für sicher, „daß der gemeinsame Vorfahre vor mindestens 50.000 und maximal 500.000 Jahren auftauchte. Dieser Spielraum ist nur durch weitere Grundlagenforschung und Fossildokumentation einzuengen. Bis dahin müssen wir uns mit seriösen Schätzungen begnügen."

Andere Mitochondrien-For-schungsteams werfen den beiden vor, einige ihrer DNS-Proben hätten von Afro-Amerikanern gestammt, indianische DNS könnte daher das Ergebnis beeinflußt haben. Wolpoff wiederum beruft sich auf den Genetiker Masatoshi Nei von der University of Texas, der wesentlich niedrigere Mutationsraten annimmt. So daß sich, meint er, der „Kandelaber" tatsächlich schon vor 850.000 Jahren verzweigt haben könnte.

Wilson und Cann kontern mit der Frage, wie denn dann das hohe Alter des Genpools der heute lebenden Afrikaner zu erklären sei. Während der Streit an dieser Front weitertobt, sind auch Genfrequenz-Forscher und Linguisten dabei, die Kandelaber-Theorie zu unterhöhlen.

Cavalli-Sforza kann der angebliche oder wirkliche Fehler Wilsons und Canns schwerlich unterlaufen. Er untersucht Enzyme und andere Eiweiße von Naturvölkern, die nur geringe Kontakte zur Außenwelt hatten und analysiert nicht Mitochondrien, sondern menschliche genetische Substanz. Auch seine Ergebnisse deuten auf eine älteste Gabelung,,die die Afrikaner von den Nichtafrikanern trennt, auch er ermittelte weitere Gabelungen und gelangte zu einem hypothetischen Stammbaum, den er jedoch mit dem ausgegrabenen Material verglich. Auch er zog die Forschungen von Masatoshi Nei heran -die nun aber mit Cavalli-Sforzas Annahme übereinstimmten, wonach, bei gleicher „Schrittlänge" des genetischen Auseinanderdriftens, der „afrikanische Exodus" vor 92.000 Jahren, die Erstbesiedelung Australiens und Neuguineas vor 40.000 Jahren und die Abspaltung des nordostasiatisch-indianischen Zweiges von den Europiden vor 35.000 Jahren stattgefunden hätte.

Während Wilson, ebenfalls aufgrund der genetischen Abstände der Mitochondrien-DNS, die Behauptung wagte, der gemeinsame Vorfahr des Menschen und des Schimpansen habe noch vor nur rund sechs Millionen Jahren in Afrika gelebt, lokalisierten auch Rhesusfaktor-, Hämoglobin- und Y-Chromosomen-Forscher die Heimat des Homo sapiens sapiens recen-tus, des jetzt lebenden Menschen, in Ostafrika. Archäologische und linguistische Befunde stützen das sich immer deutlicher herausschälende Szenario. Darin ist für die „Hinterhof-Theorie", wonach Ostafrika zwar die Wiege der Menschheit war, dann aber zum „Hinterhof eines seinen Schwerpunkt verlagernden Evolutionsgeschehens wurde, kein Platz mehr. Vielmehr gingen von Ostafrika mehrere Wanderungsbewegungen aus und der Neandertaler stammte ebenso wie der Javamensch und der Pekingmensch von Teilnehmern solcher Wanderungsbewegungen ab. Auch der Jetztmensch brach, vor höchstens 200.000 Jahren, aus dem ostafrikanischen „Paradies" auf. Daß wir keine Spuren früherer Auswanderer in unserem genetischen Material nachwei-r sen können, führt Cavalli-Sforza einfach darauf zurück, daß sich Homo sapiens sapiens selbst vom nah verwandten Neandertaler bereits genetisch so weit entfernt hatte, daß Nachkommenschaft unmöglich war.

Vor 100.000 Jahren könnten die ersten unserer Vorfahren das heutige Israel erreicht, in weiteren 40.000 Jahren den ganzen asiatischen Kontinent besiedelt haben, in den letzten 60.000 Jahren könnten sie auch nach Australien, Europa und in drei Wellen nach Amerika vorgestoßen sein (die erste Welle vor 35.000 Jahren). Mit den Genen wandelte sich übrigens die Sprache.

In Afrika findet man nach wie vor die höchste genetische wie sprachliche Vielfalt. Auch Europa wurde nach diesem Szenario vor 35.000 Jahren besiedelt, doch das Blut der Ur-Euro-päer fließt nur noch in den Adern der Basken. Die Fähigkeit zur differenzierteren Sprache und damit zurdiffe-renzierteren Kooperation war der entscheidende Vorteil des modernen Menschen gegenüber dem Neandertaler.

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