6930737-1982_28_01.jpg
Digital In Arbeit

Tief in der Kreide

Werbung
Werbung
Werbung

Seit etwas mehr als einem halben Jahr, mutmaßen die freiwilligen Mitarbeiter der Telefonseelsorge am Wiener Stephansplatz, muß die Zahl jener Menschen und Familien, die unmittelbar vor dem finanziellen Ruin stehen, sprunghaft angestiegen sein.

Denn im Gegensatz zu früher häufen sich auch in dieser Anlaufstelle für die Seelennot jene Anrufer, die weder ein noch aus wissen, wenn der Gaskassier kommt, wenn die Banken an längst überfällige Kreditraten erinnern, wenn nicht selten der Exekutor zum ständigen Gast in der Wohnung wird.

Die Österreicher leben über i ihre Verhältnisse. Wer solches noch vor zwei, drei Jahren öffentlich auszusprechen wagte, der galt als unverbesserlicher Miesmacher und erntete oft nur ungläubiges Lächeln.

Die nackten Zahlen: Allein in Wien kam es 1981 zu 270.000 Lohnpfändungen (auf die Zahl der Haushalte umgerechnet bedeutet dies, daß fast jede zweite Familie davon betroffen ist).

Die Zahlungsrückstände bei den Wiener Heizbetrieben, den Strom- und Gaswerken bewegen sich in einer geschätzten Größenordnung von 60 bis 70 Millionen Schilling (1981).

Folgt man einem Bericht der SOS-Gemeinschaft für Soforthilfe der Caritas, dann wurden im Spätherbst 1981 in den Gemeindeneubauten am Stadtrand von Wien die Fernwärmezuleitungen wegen enormer Heizkostenrückstände reihenweise abgeschaltet.

Eine Untersuchung in einer der Stadtrandsiedlungen (Handelskai) hat gezeigt, daß nach eineinhalb Jahren Besiedlung von 1.200 Wohnungen zu diesem Zeitpunkt bereits mehr als 50 Prozent bei E-Werk, Gaswerk und bei der Hausverwaltung mit dem Mietzins tief in der Kreide standen.

Bedenklich nach oben zeigt nach den Aufzeichnungen des Al-penländischen Kreditorenverbandes die Kurve der privaten Ausgleichs- und Konkursfälle: Allein im ersten Halbjahr 1982 mußten in ganz Österreich 30 Privatpersonen den Ausgleich anmelden, 32 Personen gingen heuer schon in Konkurs. Keine rosigen Aussichten auch für den Rest des Jahres, wenn man bedenkt, daß die Vergleichzahlen für das gesamte Jahr 1981 nicht, wesentlich über den Halbjahreszahlen 1982 liegen.

Wen immer man mit diesen Tatsachen konfrontiert, die Beamten in den Sozialämtern oder auch die Betreiber von Inkassobüros, (Stichwort, Seite 2), sie alle glauben, daß für viele Österreicher der Zahltag wie ein Elementarereignis hereingebrochen ist.

Jahrelang haben die Kreditinstitute um Kunden gewetteifert, unter der Devise: „Wann Sie Ihre Schuld zurückzahlen, ist vorderhand völlig egal, Hauptsache, Sie nehmen überhaupt Kredit bei unserer Bank.”

Bereitwülig haben viele zugegriffen — ohne erst lange über die Belastungen für das Haushaltsbudget zu grübeln. Man mußte schließlich den Nachbarn zeigen, was man sich nicht alles leisten kann. Nunmehr, in Zeiten stagnierender Einkommen und wachsender Arbeitslosigkeit, fordert die hemmungslose Konsumgesellschaft ihre Opfer.

Daß einer seine Kreditzinsen regelmäßig und pünktlich zahlt, ist heutzutage „eher die Ausnahme”, weiß Michael Aumüller, Geschäftsführer eines internationalen Wirtschaftsauskunft- und Inkassobüros.

Daß viele Firmen und Banken auch heute noch scheinbar unkompliziert kreditieren, liegt im Zwang zum Umsatzmachen um jeden Preis. Die Firmen haben ihre Fixkosten, und um die zu dek-ken, lassen sie sich immer häufiger auf Geschäfte ein, „selbst wenn sie von der Kreditwürdigkeit des Kunden nicht vollends überzeugt sein können”, berichtet Aumüller aus seinem Geschäftsalltag.

Uber die Geschäftspraktiken mancher Versandhäuser und die Großzügigkeit vieler Banken bei der Vergabe von Privatkrediten kann sich der Leiter des Sozialamtes der Stadt Wien, Herbert Drapalik, nicht genug wundern.

Der Referent für die allgemeine Fürsorge in Wien, Helmut Böhm, assistiert: „Ein Heer von Vertretern fällt über die Neubaumieter her — und die zumeist jungen Familien sind nicht immer die willensstärksten.”

Für Möbel-, Fernseh- oder Spülmaschinenkredite kann und will das Sozialamt nicht aufkommen. Die Großzügigkeit der Sozialreferate muß schon deshalb beschränkt werden, weil kaum noch mit ähnlichen Steigerungsraten des Sozialbudgets wie etwa vor zehn Jahren gerechnet werden darf.

Die leeren öffentlichen Kassen zwingen zu Kontingentierungen der Sozialhilfe, nicht nur in Wien. Die Arbeit der Sozialbeamten wird auch insofern erschwert, als die Anspruchshaltung vieler sozialer Problemgruppen mit dem allgemeinen Lebensstandard gestiegen ist.

Der Plafond der allgemeinen Konsumeuphorie scheint jedenfalls erreicht. Aber warum sollten die Menschen umdenken, wo doch in der Budgetpolitik des Staates von Sparen wenig die Rede ist? Und wo Schuldenmachen als höchste Tugend der entwickelten Wohlfahrtsgesellschaft gilt?

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung