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Tiefenströmungen

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Hier soll jetzt nicht von der im Westen rasch entstandenen reichhaltigen Literatur über die Perestrojka die Rede sein, sondern nur von einem Werk, das allerdings die Lektüre mancher anderer Bücher spart.

Andrej Sinjawskis neues Buch „Der Traum vom neuen Menschen oder Die Sowjetzivilisation" (S. Fischer-Verlag) ist allerdings nicht eigentlich eine Schilderung oder Untersuchung der Gor-batschowschen Liberalisierung, sondern setzt viel früher an und ergibt dadurch gleichsam von selbst eine überaus fundierte und überzeugende Beurteilung der so erfreulichen jüngsten Entwicklungen.

Andrej Sinjawski, 1925 in Moskau geboren, der schon unter dem Pseudonym Ab-ram Terz mit seinem 1953 im Westen erschienenen Roman „Der Prozeß beginnt" Auf sehen erregte, wurde 1965, knapp nach Chruschtschows Sturz, verhaftet, zu fünf Jahren verschärfter Lagerhaft verurteilt und konnte 1973 nach Paris emigrieren.

Sinjawski war einst Dozent an der Universität und am Gorki-Institut, er weiß unmittelbarer Erfahrung Bescheid über die Intellektuellen, die Opposition, die Dissidenten, das Verhalten der Bevölkerung, er lernte politische Häftlinge aller Schichten kennen, kann die verschiedensten Motive, die realen Ursachen, die geistigen Strömungen, die Emotionen und logischen Konsequenzen bis in feine Nuancen festhalten.

Er geht den Springfluten des Schreckens auf den Grund und läßt die den meisten Wohlstandsbürgern des Westens unverständliche Welt des „real existierenden Sozialismus", deren Errichtung, deren verschiedene Phasen wenigstens ahnungsweise miterleben, vom Aufbruch Lenins über die NEP, den Proletkult, über Stalin, die Nachkriegszeit, Bresch-njew bis zu Gorbatschow. Auf Vergleiche mit Hitler verzichtet Sinjawski weise, er konzentriert sich auf sein eigenes Land.

Sinjawskis Besonderheit ist, daß er die Wirklichkeit und deren Kräfte in Dichtungen spiegelt, daß er nicht nur berühmte Autoren wie Wladimir Majakowskij, Sergej Jessenin, Michail Bulga-kow zitiert, sondern unzählige weniger bekannte wie Le-bedew-Kumatsch oder Was-silij Knasjew, die fürchterlichen Politkitsch schrieben und verhängnisvoll zur Zeitstimmung beitrugen.

Sinjawski zeigt die historischen, kulturellen, psychologischen Energien, die sich auswirkten und heute noch vnrksam sind. Er zeigt religiöse Tiefenströmungen und ist sich nicht zu fein, typische Witze anzuführen, die seelische Landschaften une durch einen Blitz erhellen: hier gibt es ein Buch, das auf jeden Fall aktuell bleiben wird.

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