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Tinte läßt Blut fließen

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(Die Wogen haben sich nahezu geglättet, man kann wieder in Buhe darüber reden — über das Bundesheer nämlich, und man kann rückblickend die Frage stellen: Was wurde im Fall Wandl verschwiegen? Herbert Eisenreich jedenfalls stellt diese Frage im folgenden.)

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(Die Wogen haben sich nahezu geglättet, man kann wieder in Buhe darüber reden — über das Bundesheer nämlich, und man kann rückblickend die Frage stellen: Was wurde im Fall Wandl verschwiegen? Herbert Eisenreich jedenfalls stellt diese Frage im folgenden.)

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Zwei Feststellungen vorweg: Daß, erstens, die Trauer um den toten Soldaten Kurt Wandl und das Mitleid mit seinen Hinterbliebenen außer jeder Frage stehen. Und daß, zweitens, physischer und psychischer Terror im Bundesheer fehl am Platze sind und terroristische Vorgesetzte, gleich welchen Ranges, in diesem Heer nichts zu suchen haben. Unter diesen Voraussetzungen aber darf — und muß sogar, nämlich um unserer Republik, willen — das jour nalistische Zerrbild des Falles Wandl korrigiert werden.

Verschwiegen wurde erstens, daß Wandl, der ja kein Tolpatsch aus dem Hinterwald, sondern ein überdurchschnittlich begabter Maturant aus einer gebildeten Familie war, schon dank seiner Intelligenz imstande hätte gewesen sein müssen, von dem im Bundesheer tadellos funktionierenden Beschwerderecht einen angemessenen Gebrauch zu machen. Und während die Vorgesetzten Wandls unflätig beschimpft wurden, stellte niemand die naheliegende, wenn auch kaum mehr beantwortbare Frage, ob der Soldat am Morgen des Unglückstages vielleicht nur deshalb sich nicht krank gemeldet habe, um seinen Anspruch auf abendlichen Ausgang oder den nächsten Wochenendurlaub nicht, nämlich durch die Einweisung ins Krankenrevier, zu verwirken.

Verschwiegen wurde zweitens, daß tödliche Unfälle in allen quantitativ vergleichbaren Großbetrieben sehr viel häufiger sind als im österreichischen Bundesheer. Verkehrsunfälle mit bis au hündert und mehr Toten sind oftmals darauf zurückzuführen, daß der Pilot, der Lokomotivführer, der Kraftwagenlenker brutal überfordert war; aber trotzdem wird weitergeflogen und -gefahren. Und weil immer wieder einmal ein Maurer, seis durch fremdes, seis durch eigenes Verschulden, vom Gerüst stürzt, ist noch niemand auf die Idee gekommen, hinfort keine Häuser mehr zu bauen. In manchen Ländern ist die Zahl der tödlichen Haushaltsunfälle kaum geringer als die der tödlichen Verkehrsunfälle; in der Bundesrepublik Deutschland kommen allein beim traditionellen Osterputz alljährlich rund 3000 (in Worten: dreitausend) Menschen ums Leben. Aber im Gegensatz zu dem Absturz eines „Starfighter” macht das keine Schlagzeilen; es gibt — wie man so sagt — journalistisch nichts her.

Artikel 6 (2) der auch für Österreich rechtsverbindlichen Menschenrechtskonvention lautet: „Bis zum gesetzlichen Nachweis seiner Schuld wird vermutet, daß der wegen einer strafbaren Handlung Angeklagte unschuldig ist.” Trotzdem angenommen, die unmittel baren Vorgesetzten Wandls hätten Schuld auf sich geladen: So bleibt doch immer noch das fassungslose Erstaunen darüber, daß keine „Öffentlichkeit” aufheult, wenn ein besoffener Tramwaylenker ein halbes Dutzend Leute zu Tode fährt. Und jeder, der sich die Mühe macht, die Lokalzeitungen zu studieren, muß zu dem Schluß kommen, daß weitaus mehr Lehrlinge als Rekruten ihr Leben lassen müssen — einfach deshalb, weil der Vorgesetzte —, der Vorarbeiter, der Meister, der Lehrherr — nicht sämtliche Sicherheitsbestimmungen buchstabengetreu eingehalten hat. Merkwürdig ist auch, daß gerade diejenigen, die das Bundesheer verteufeln, nicht auch für ein Verbot des Sports plädieren, obwohl allein in Österreich jährlich wohl hunderte Menschen beim Baden ertrinken, beim Klettern ab- stürzen, beim Kraftfahr- und Flugsport verunglücken, beim Wandern erfrieren oder vom Blitz erschlagen werden. Da ist kein Bademeister und kein Bergführer schuld daran, kein Promoter und kein Alpenvereinsfunktionär. Wäre Wandl beim Tennisspiel einem Hitzschlag erlegen — und beim Tennis ist diese Gefahr ganz gewiß nicht geringer als bei einer militärischen Geländeübung —, dann hätte kein einziges journalistisches Hähnchen nach ihm gekräht. Denn Tennis gespielt hätte Wandl auch bei 36 Grad im Schatten ja sozusagen auf eigenes Risiko; doch seinen Wehrdienst hat er abgeleistet für Staat und Volk, und der Dienst an Staat und Volk gilt in dieser Zweiten Republik offenbar schon als eine Art widerrechtlich erpreßtes Sklaventum.

Verschwiegen wurde sodann, daß, erstens, das Bundesheer seit seinem Bestehen und erst recht seit der sozialistischen „Reform” finanziell grotesk unterdotiert ist: es erhält (in Prozenten sowohl des Budgets als auch des Bruttonationalproduktes) nur rund ein Viertel des für die anderen Staaten Europas errechneten Durchschnittssatzes, obwohl das neue Wehrsystem Österreichs zu den an sich teuersten des Kontinents gehört; und daß, zweitens, aus dieser Unterdotierung ein katastrophaler Mangel an Kaderpersonal resultiert. In ihrer sattsam bekannten falschen Bescheidenheit versichert die militärische Führungsspitze zwar, daß der Fehlbestand an Unteroffizieren „nur” 50 bis 60 Prozent betrage; tatsächlich wäre aber die etwa vierfache Zahl der derzeit Dienst tuenden Unteroffiziere vonnöten, um eine optimal befriedigende Ausbildung sicherzustellen. In der Praxis sieht das — wie der Verfasser aus eigener Anschauung weiß — dann so aus, daß Gefechtsübungen schon im Kompanierahmen nur durchführbar sind, wenn die jeweils übende Einheit sich das Minimum an fehlenden Unterführern irgendwo ausborgt, während bei Manövern im Verband (Kampfgruppe oder Brigade) dieses Leihsystem nicht mehr funktioniert: da besteht dann das Führungspersonal eines Jägerzuges von 40 Mann manchmal nur mehr aus einem Vizeleutnant und einem Korporal. Dadurch aber sind die Unteroffiziere oft physisch überanstrengt, und, in letzter Konsequenz, auch psychisch überfordert.

Verschwiegen wurde weiters, daß eine gleichsam totale Dienstaufsicht durch Offiziere schon deshalb gar nicht mehr möglich ist, weil — nach Erhebungen der Bundeswehr — ein Kompaniekommandant bei einer Wochendienstzeit von über 50 Stun den weit rhehr als die Hälfte seiner Arbeitszeit mit bürokratischen Erledigungen vergeuden muß, weil es, anders als etwa in Israel, trotz allem Geschwätz über Emanzipation und staatsbürgerliche Gleichheit noch immer keine Wehrdienstpflicht für (kinderlose) Frauen gibt.

Verschwiegen wurde, übrigens, auch, daß in jüngster Zeit nicht gerade wenige Offiziere und Untenoffiziere unter dem doppelten Druck von Überstunden und Überverantwortlichkeit gesundheitlich zusammengeklappt sind.

Verschwiegen wurde, daß einerseits die Unfallsquote beim Militär um so höher liegt, je kürzer die Dienstzeit und je mangelhafter dadurch die Ausbildung ist; und daß anderseits die Unfallsquote im österreichischen Bundesheer merklich geringer sein dürfte als die in sehr vielen anderen Armeen, was unserem Offiziers- und Unteroffizierskorps doch wohl das beste Zeugnis ausstellt. Vergleichszahlen liegen natürlich nicht vor; denn im Ostblock darf grundsätzlich über derartige Vorfälle nicht berichtet oder gar öffentlich diskutiert werden, und im Westen beurteilt man einen militärischen Betriebsunfall richtigerweise nicht anders als einen Betriebsunfall bei der Post, in der Schule oder in eifiem Bergwerk. Tatsache ist, daß jedes Manöver der deutschen Bundeswehr etliche Todesopfer — unter Soldaten wie unter Zivilisten — fordert. Und Tatsache ist, daß — wie der Verfasser zum Teil aus eigener Anschauung weiß — selbst die personell und zeitlich umfangreichsten Bundesheer- Manöver oft völlig unblutig verlaufen sind: zum Beispiel „Husarenritt” im Herbst 1970.

Verschwiegen wurde selbstverständlich, daß es in dieser Zweiten Republik keinen anderen Stand gibt, der auch nur annähernd so — um das hier passende Modewort zu gebrauchen — verunsichert worden ist wie der des Berufssoldaten; und daß es — ein Fremdverschulden im Falle Wandl rein hypothetisch einmal vorausgesetzt — verwunderlich wäre, wenn es daher nicht zu Fehlleistungen einzelner Offiziere und Unteroffiziere käme.

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