6876337-1978_44_13.jpg
Digital In Arbeit

Tod - Krisis der Liebe

Werbung
Werbung
Werbung

Jedes Nachdenken über den Tod befindet sich prinzipiell in einer mißlichen Situation. Einerseits scheint nichts mehr gewiß und sicher als der Tod. Der Mensch stirbt, wir alle werden sterben. Andererseits ist nichts rätselhafter und geheimnisvoller als der Tod. Der Tod ist das Selbstverständlichste und Rätselhafteste, das Offenbarste und Verhüllteste, das Natürlichste und Widernatürlichste zumal. Wir alle wissen, daß wir sterben werden - und doch hat niemand von uns jemals den Tod erfahren.

Es wird gestorben - unentwegt, gewaltsam, eines sogenannten „natürlichen“ Todes, zuweilen auch durch Hand-an-sich-selbst-Legen, durch eigenen, scheinbar freien Entschluß.

Von Abraham etwa heißt es im Alten Testament, er sei alt und lebenssatt gestorben - was heißen kann: befriedigt, oder auch: angeekelt vom

„Alle Deutungen des Todes orientieren sich im wesentlichen am eigenen Tod.“

Leben. Andere werden in der „Blüte ihrer Jahre“ erschlagen oder von einer tückischen Krankheit hinweggerafft, Kinder verhungern, Menschen werden zu Tode gequält, Sokrates geht gelassen in den Tod, Märtyrer starben mit einem Schrei auf den Lippen. Gerade in unseren Tagen gehen nicht wenige mit ihrem oder fremdem Leben äußerst großzügig um.

Von der Frage, was denn der Tod sei - etwa ob Ende des Lebens im Sinne eines Abbruches, einer Zerstörung gemäß dem Wort, daß niemand zur rechten Stunde stirbt, sondern immer zu früh oder zu spät, oder Ende als Vollendung, ob er absolutes Ende ist oder Anfang im Sinne von Verwandlung, bis zu den daraus hervorgehenden Fragen nach dem Sinn oder Widersinn des Todes, nach seiner Bedeutung oder Bedeutungslosigkeit für das Leben, nach seiner Notwendigkeit oder Zufälligkeit, nach seinem Zusammenhang mit Zeit, Geschichte, Freiheit, seiner Beziehung zu anderen Menschen, zur Gesellschaft - immer wieder zeigt sich diese Offenbarkeit und Verhülltheit des Todes in einem.

Der Mensch weiß, daß er stirbt. Dieses Wissen um den Tod steht am Anfang jedes der Versuche einer Deutung des Todes, deren Vielfalt, deren einzelne Fragebahnen in ihrer

jeweiligen Auslegung hier nicht einzeln verfolgt werden können. Gerade aber ein Versuch eines philosophischen Fragens nach dem Tod sieht sich von Anfang an mit der Möglichkeit konfrontiert, daß es gerade der Tod ist, der das Philosophieren in Atem halten könnte, gleichsam als Stachel des Denkens. Die Todgeweihtheit des menschlichen Daseins, seine Vergänglichkeit und Endlichkeit, läßt dieses Ende geradezu als Anstoß allen Philosophierens erscheinen.

Von Piatons Bestimmung der Philosophie als eines Sterbenlernens bis zu Schopenhauers Auffassung vom Tod als des eigentlichen Genius der Philosophie zeigt sich immer wieder, wie sehr der Tod bzw. das, was vom Tod ausgeht, nach einer philosphi-schen Bewältigung verlangt.

Dabei lassen sich in großen Zügen grundsätzlich zwei verschiedene Antworten aufzeigen, die sich in mannigfachsten Varianten durch die Geschichte bis zu Gegenwart ziehen:

1. Der Tod ist kein Ereignis des Lebens, er steht gewissermaßen außerhalb des Lebens. Es besteht keine Verbindung zwischen Tod und Leben.

2. Demgegenüber läßt sich der Zusammenhang von Leben und Tod aber auch noch anders fassen. Auch wenn der Tod als solcher kein .Ereignis des Lebens ist, steht er doch in entscheidender Beziehung zu ihm: Leben und Sterben lassen sich nicht voneinander trennen. Alle unsere Lebensvollzüge stehen als solche dann bereits unter dem Zeichen des Todes. Leben erscheint überhaupt als ein Sein zum Ende.

Daraus lassen sich aber wiederum sehr grob zwei verschiedene Weisen der Deutung des Todes ableiten:

1. Der Tod als dem Leben gleichsam nicht von „außen“ angehängtes Ende kann dann so gesehen werden, daß er es erst ist, der dem Leben überhaupt seine Bedeutung, seinen Sinn vermittelt. Vom Tod her zeigt sich dann das, was Leben überhaupt ist.

2. Im Gegensatz dazu kann aber auch der mit dem Leben wesenhaft verbundene Tod als etwas gedacht werden, das dem Leben jedwede Bedeutung, jedweden Sinn nimmt. Der von hier aus aufflammende Protest gegen den. Tod, wie er vielleicht am klarsten bei Albert Camus entgegentritt, entzündet sich an der grundsätzlichen Absurdität, der ein endliches, durßh den Tod bedrohtes Leben ausgesetzt ist.

Alle Deutungen des Todes orientieren sich im wesentlichen am eigenen

Tod. Sie versuchen entweder, diesen Tod zu verdrängen, oder ihn in Vorwegnahme so mit dem Leben zu verflechten, daß dieses vom Tod her, und der Weise, wie er gedeutet wird, bestimmt ist - als sinnvoll oder absurd.

Dabei entscheidet aber in jedem Fall die Frage nach dem Sinn des Todes über alle anderen Fragen - über Freiheit, Zeitlichkeit, Ende oder Ganzheit des menschlichen Daseins, sofern dieses eben aus einer wesenhaften Zusammengehörigkeit von Leben und Tod gesehen wird.

So verständlich auch der Versuch ist, den Tod zumindest als gewaltsam abzuwenden, für alle Menschen also einen „natürlichen Tod“ zu fordern, so fragwürdig muß dies werden, wenn darin eine Möglichkeit erblickt wird, den Tod von einem „Zeichen der Unfreiheit“ in ein solches der Freiheit zu verwandeln.

Die von Herbert Marcuse geäußerte Hoffnung, in einer repressionsfreien Gesellschaft, in der es nur mehr einen „natürlichen“ Tod gäbe, könne sich der Mensch mit dem Tode abfinden, erweist sich hier bei weitem als größere Illusion als die von Marcuse dem Christentum vorgeworfene Hoffnung auf eine Unsterblichkeit über den Tod hinaus. Vielleicht könnte sich gerade umgekehrt am Tod zeigen, wie alle Vergesellschaftung, alle sozialen Beziehungs-

Systeme versagen, wenn das Äußerste des Lebens auf dem Spiel steht.

Für den Tod des anderen als eines gesellschaftlichen Phänomens behält das Wort Heideggers Gültigkeit, daß wir dabei keine Erfahrung vom Tod machen, daß wir eben allenthalben dabei sind. Gilt dies aber auch noch dort, wo mir nicht ein anderer im Gesellschaftsverband als Rollenträger im Sozialsystem gegenübersteht, sondern wo es um den Tod eines bestimmten Menschen geht -desjenigen, den ich liebe? Ist nicht dort, wo der oder die geliebten Menschen sterben, von Anfang an eine ganz andere Weise der Erfahrung aufgerissen, in der ich selbst stehe?

Der Tod erscheint darin als Krisis der Liebe, und aus der in ihr beschlossenen Ganzheit der Lebensvollzüge auch als Krisis meines eigenen Seins.

Anderseits aber schließt der Tod die einzelnen Akte des Vollzuges des „Wir“ zu einer Ganzheit zusammen, die sich erst jetzt ausmachen läßt. Mehr noch: alles, was bislang noch überholbar, revidierbar, in Zukunft machbar schien, ist nun endgültig geworden. Der Tod enthüllt hier die ganze Unbedingheit dessen, was diese Liebe beansprucht hat. Was du mir bist - oder in merkwürdig sprachlicher Doppeldeutung: gewesen bist - kann sich erst am Tod zeigen.

Damit finden wir die Doppeldeutigkeit des Todes als Ende und Vollendung in verschärfter Form wieder. Einerseits ist der Tod Abbruch der Liebe - andererseits deren Vollendung, weü von ihm her über diese Liebe entschieden wird. Einerseits ist er höchstes Ärgernis der Liebe, andererseits deren Prüfstein; einerseits Ereignis, dessen Grundlosigkeit und vielleicht Zufälligkeit sich mir in unbegreiflicher Weise entzieht, ande-

rerseits höchste Möglichkeit der Liebe.

Ob wir den Tod zu einem Abbruch, einer Zerstörung und darin zum Zeichen der Absurdität allen Lebens, allen Seins werden lassen, oder ob er als Vollendung, und damit unabdingbare Einheit mit dem Leben, dessen Sinn erschüeßend, oder als beides zugleich gedacht wird, liegt als Entscheidung in unserer Freiheit - auch wenn sich diese Entscheidung, im letzten gesehen, radikal dem Tode aussetzen muß, ohne sich auf Gewißheit oder Sicherheit stützen zu können.

Denn nicht wir stellen im Grunde Fragen an den Tod, sondern er stellt uns die Frage.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung