7035770-1989_48_11.jpg
Digital In Arbeit

Todes- statt Lebensbedingungen

19451960198020002020

In einem neuen, packenden Buch stellt Dolores Bauer (D.B.) den in der Prälatur do Xingu wirkenden, aus Vorarlberg stammenden Bischof Kräutler, Dom Erwin (D.E.), vor.

19451960198020002020

In einem neuen, packenden Buch stellt Dolores Bauer (D.B.) den in der Prälatur do Xingu wirkenden, aus Vorarlberg stammenden Bischof Kräutler, Dom Erwin (D.E.), vor.

Werbung
Werbung
Werbung

D.B.: Dom Erwin, 25 Jahre-ziemlich genau die Hälfte Deines bisherigen Lebens - lebst Du hier in der Prälatur do Xingu. Mit welchem Gottesbild bist Du eigentlich damals hierher gekommen, mit welchem Gottesbild lebst und arbeitest Du heute?

D.E.: Mein Gottesbild damals war sicher ein zu theologisches, zu philosophisches, ein zu theoretisches. Natürlich hat man gesagt, Gott ist die Liebe, aber man hat vor allem viel von der Allmacht Gottes geredet. Mir ist eigentlich erst hier zum Bewußtsein gekommen, daß es um den Gott geht, der die Armen hört, wie es im Kapitel drei des Buches EXODUS heißt: „Ich hörte den Schrei deines Volkes und sah sein Leiden.“

Das habe ich wirklich erst hier verstanden, daß Gott nicht ein Gott in weiter Ferne ist, zu dem man hin und wieder aufschaut und betet, sondern daß Gott herabgestiegen ist und sein Volk hört, sein Leiden, seine Schmerzen sieht, Menschen anruft, be-ruft, um seinem Volk die

Frohe Botschaft zu bringen, die Botschaft des Lebens. Es ist ein Gott, der mit seinem Volk auf dem Weg ist, um es aus der Sklaverei herauszuführen in das gelobte Land. Das war nicht irgendwann einmal in der Geschichte, das ist jeden Tag. Dieser Weg in das gelobte Land, in das Land der Gerechtigkeit, der Liebe, des Verständnisses, der gegenseitigen Achtung, der gegenseitigen Hilfe, das ist ein Weg, der auch heute und hier unter Leiden und Schmerzen, aber getragen von einer starken Hoffnung, gegangen wird.

Das kam mir immer mehr zum Bewußtsein: dieser Gott hört uns, sieht uns, nicht als mahnender und drohender Richter, sondern als ein Liebender. Unser Ziel ist sein Reich, das Reich Gottes. Aber dieses Reich wird nicht von ihm allein geschaffen, sondern er will, daß wir daran mitbauen. Er will, daß wir etwas tun, daß wir zusammenrücken, daß wir einander helfen, damit dieses, sein Reich, Wirklichkeit werden kann. Ich sehe diesen Gott, als den Vater, den Schöpfer, der den Menschen Heimat ist und sie nicht in ein Chaos, sondern in eine gute Mitwelt hineingestellt hat. Es ist ein liebender Gott, der trotz all unserer Schwächen und Unzulänglichkeiten auf unserer Seite steht...

D.B.: Was ist eigentlich Deine persönliche Visionvon der Zukunft?

D.E.: Das ist nicht einfach zu sagen, aber ich glaube an eine menschenwürdigere Zukunft. Es muß ein Umbruch kommen. Ich hoffe und bete zu Gott, daß es nicht eine blutige Revolution sein wird. Gewaltsamer Tod ist in jedem Fall eine Tragödie. Der Tod nimmt jedem Menschen die Möglichkeit, sich zu bekehren, einen anderen Weg einzuschlagen.

Ich hoffe doch, daß von der Basis her eine neue, gemeinschaftlichere Gesellschaftsordnung entstehen wird, in der Solidarität das neue Wort für Liebe ist und Entwicklung einen neuen Stellenwert bekommt. Und diese Solidarität wird eine Kettenreaktion auslösen, über alle sozialen Schichten, alle Nationen und Grenzen hinweg. Daran glaube ich. Dafür arbeite ich. Dafür investiere ich viel Zeit, um auch in Europa darüber zu reden, Bewußtsein zu schaffen, daß das, was hier und anderswo im Süden geschieht, einfach nicht mehr länger hingenommen werden darf. Solidarität heißt nicht nur in die Geldtasche greifen. Solidarität heißt, daß man mit diesen Menschen fühlt, ihr

Leid spürt und daher geschwisterlich zu teilen beginnt.

Natürlich geht es erst einmal um den einzelnen, aber es geht auch um die Gemeinschaft, es geht auch um die Staaten. Es darf nicht mehr geduldet werden, daß die Länder des Südens in einer so brutalen Abhängigkeit gehalten werden. Das ist untragbar. Wir laufen in eine Katastrophe, wenn das so weitergeht. Industrienationeh müssen sich ihrer Verantwortung bewußt werden und erkennen, daß die Not und das Elend der anderen die Folge ihres Wohlstandes, ihrer Verschwendungssucht sind. Der Mensch und seine personale Würde muß einen neuen Stellenwert bekommen, muß über rein wirtschaftliche Interessen gestellt werden.

Ich träume von einer Zukunft, die mehr Solidarität zwischen den Völkern ermöglicht, die den Menschen als Teil der Schöpfung in den Mittelpunkt stellt und nicht ökonomische Interessen. Der Mensch als Abbild und Gleichnis Gottes, als Mitgeschöpf - dafür setzen wir uns ein, für diesen Menschen, für sein Leben als Einzelmensch, als

Familie, als Gruppe, als Volk. Das ist auch das Zentrum der Botschaft Jesu, wenn er von Liebe spricht. Diese Liebe ist die Solidarität zwischen den Menschen und zwischen Mensch und Natur - das ist auch irgendwie Abglanz der Dreifaltigkeit, der Urgemeinschaft, des Urmysteriums Gottes, des tiefsten Sinnbildes jeglicher Gemeinschaft.

D.B.: Dazu aber bedarf es eines starken Bekehrungsschubes!

D.E.: Ganz sicher. Nicht nur Bekehrung des einzelnen, sondern Bekehrung von Völkern. Das muß einfach kommen. Ich sehe keine andere Möglichkeit - sonst versinkt alles in einer blutigen Weltrevolution, wenn all diese Milliarden Elendsgestalten sich mit letzter Kraft aufraffen, um sich mit Gewalt zu holen, was ihnen zusteht. Das wenige alles haben, das darf nicht mehr sein.

D.B.: Es ist doch auch heute noch so, daß Menschen wie Du als blauäugig, naiv und utopisch abqualifiziert werden. Dabei stehen die Irra-tionalisten längst auf der anderen Seite, und viele wissen das sogar schon.

D.E.: Mir ist das längst völlig egal, ob man mich naiv nennt oder sonst irgendwie. Ich weiß durch meine Arbeit, meinen Umgang mit den Menschen hier, mit den einen wie den anderen, daß wir den Weg des linearen Wachstums, der brutalen Ausbeutung von Natur und Mensch nicht mehr lange werden fortsetzen können. Ich weiß, wie die Wirklichkeit dieser Welt ausschaut, weiß es besser, als so manche Herren in ihren klimatisierten Bürohäusern, in ihren Fauteuils und Luxusautos und auch hinter den gepolsterten Türen diverser Bischofspaläste. Wenn man das konkret vor Augen hat, wenn man Menschen am Boden liegen, ganze Völker zum Tode verurteilt sieht, dann kann ich mir das Gequatsche von wirtschaftlichen, politischen und strategischen Sachzwängen nicht mehr anhören. Als Christ kann ich das nicht. Da müssen wir einfach Initiativen ergreifen, um den gordischen Knoten zu durchschlagen.

Wenn Deine Kinder, Deine Enkel zum Tode, zu einem langsamen Hungertod verurteilt sind, werde ich Dir auch nicht von Sachzwängen predigen können. Da wirst Du mir sagen, daß Du willst, daß Deine Kinder, Deine Enkel leben, weil sie ein Recht auf Leben haben. Es geht hier um das Leben, um das Überleben. Es geht nicht einmal um den Lebenssinn für diese Leute, es geht darum: wie kann ich mit meiner

Familie überleben. Das muß einfach einmal gehört werden auf der ganzen Welt, daß die Mehrheit aller Menschen tagtäglich ums nackte Überleben raufen muß. Das versteht man nur, wenn man das sieht, wenn man das hautnah miterlebt. Du kennst das, Du hast genügend gesehen, genügend Erfahrungen gesammelt, aber die meisten unserer Landsleute haben diesen Zugang nicht, oder nicht den Mut, hinzuschauen und sich betreffen zu lassen.

Ich höre es immer wieder: „Das ist 12.000 Kilometer weit weg, das berührt mich nicht.“ Wir sitzen alle im selben Boot. Wir werden alle die Folgen zu tragen haben. Gemeinerweise spricht man ja immer noch von den Lebensbedingungen dieser Menschen. Das sind Todes-Bedin-gungen im wahrsten Sinn des Wortes. Wie können wir uns noch als Christen geben, wenn wir zuschauen, wie diese Menschen eines langsamen, qualvollen Todes sterben?

Wie können wir ruhig zuschauen, wenn wir wissen, daß hier die Auslandsverschuldung so groß ist, daß dieses Land einfach alles exportieren muß, was es selber zum Leben brauchte; wenn es soweit kommt, daß dieses Land sich auf seinen größten Reichtum, auf sein eigenes Volk nicht mehr besinnt? Können wir da noch mittun, wir, die wir doch irgendwie die Nutznießer von all dem sind?

„Was hat das mit Glauben, mit Christentum zu tun?“ - fragt man mich oft, das sind politische, wirtschaftliche Angelegenheiten. Wir können das nicht trennen, das sind nicht zwei Paar Schuhe. Unser Glaube muß Einfluß nehmen auf die Politik, auf die Wirtschaf t. Wenn ungerechte Strukturen da sind, dann müssen wir sie ändern. Wie, das sollen sich gefälligst die hochgerühmten Experten einfallen lassen, die haben das ja gelernt, sollen ihre Köpfe anstrengen.

Auszug aus: STROM DES ELENDS - FLUSS DER HOFFNUNG. Unterwegs mit Dom Erwin Kräutler, Bischof vom Xingu. Von Dolores Bauer. Mit einem Vorwort von Weihbischof Kunt-ner. Otto Müller Verlag, Salzburg 1989.264 Seiten, 25 Abb., brosch., öS 198,-.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung