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Todsünde: Lärm

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„Denn was innen, das ist außen". Wie sehr dieses Wort einen wiridichen Sachverhalt aussagt, wird klar, wenn wir uns einem besonderen Aspekt menschlicher Umweltverschmutzung, und Umweltverwüstung nähern: dem Lärm.

Bereits die geläufige Definition, Lärm sei „unerwünschter, störender oder gesundheitsschädlicher Schall", läßt erkennen, daß hier neben physikalischen und relativ leicht meßbaren Größen auch subjektive Momente eine erhebliche Rolle spielen. Lärm als akustischer Müll, als aggressiver Raubbau an dem in unberührter Natur enthaltenen Schatz von Stille, ist zu einer der ärgsten Plagen unserer Zivilisation geworden.

Wir wissen, daß starker und langandauernder Lärm nicht nur das Gehör schädigt und unseren Schlaf Beeinträchtigt, sondern überhaupt uhser Leistungsvermögen vermindert, uns psychisch und physisch krank macht, die vitale Integrität des individuellen Organismus angreift. Er schädigt Kreislauf, Atmung und Nervensystem, bringt den Blutdruck in Unordnung, stört die Verdauung und beeinträchtigt die Herzfrequenz.

Ärzte und Gesundheitspolitiker stellen fest: Jeder dritte Deutsche ist lärmkrank. Die durchschnittliche Lärmbelästigung in den Großstädten steigt jährlich um ein Dezibel, das heißt: sie verdoppelt sich innerhalb eines Jahrzehnts. Eine solche Geräuschzunahme wird dazu fiihren, daß wir in dreißig Jahren ein Volk von Schwerhörigen und Tauben seiri werden.

Mit Uberschallgeschwindigkeit fliegende Flugzeuge bedecken die Kontinente mit sich von Jahr zu Jahr ausbreitenden Lärmteppichen. Bekanntlich verursachen die Bug- und Heckwellen überschallschneller Flugzeuge donnerähnliche Knall- oder sogar Doppelknallgeräusche, und zwar während des gesamten Fluges. Der Vorgang ist den Uferwellen vergleichbar, die ein durch einen Kanal fahrendes Schiff erzeugt.

Nicht nur kostbare Glasfenster von Kathedralen und Stukkaturen von unter Denkmalschutz stehenden Schlössern zerspringen durch den Überschallknall; er löst auch Lawinenabstürze im Hochgebirge aus und fiihrt zu Fehlgeburten bei Mensch und Tier.

Obwohl dies alles bekannt ist, obwohl auch Meinungsumfragen ergeben, daß immer mehr Zeitgenossen unter dem zivilisationsbedingten Lärm am Arbeitsplatz, in den Wohnungen und auf den Straßen leiden, können wir kaum umhin, festzustellen, daß der Mensch den Lärm nicht nur haßt, sondern auch sucht, ja nach ihm geradezu süchtig ist.

Wenn Friedrich Schillers bekanntes Wort zutrifft, daß der Mensch nur da ganz Mensch sei, wo er spielt, dann müssen wir als nüchterne Beobachter leider aussprechen, daß er von Natur aus nach Lärm lechzt und zur Stille weithin unfähig ist.

Der Mensch wird nicht nur als ein schreiendes Wesen geboren; auch das heranwachsende normale Kind hat ein triebhaftes Interesse an allem, was kracht, quietscht, kreischt, dröhnt und rasselt. Nicht von ungefähr gehören Maschinenpistolen, Revolver und Knallerbsen zu den instinktiv bevorzugten Spielzeugen von Jungen.

Der Mensch, der unter dem Lärm zunehmend leidet, ist zugleich der geborene Lärmmacher und Lärmsüchtige,

Die Geräusche, -die er erzeugt, überschreiten bei weitem das Maß, das, wie in der Tierwelt, nötig wäre, um seine Artgenossen anzulocken, abzuwehren oder zu warnen.

Er nimmt nicht nur den gewiß einer Verminderung fähigen, aber anscheinend doch unvermeidlichen Lärm der Werkstätten, Fabriken, Fahrzeuge und Motoren hin, sondern benützt auch Fest- und Feiertage weniger als willkommene Anlässe stille Besinnung denn frenetischer Ruhestörung und sinnlosen Klamauks.

Die alljährlichen Feuerwerksveranstaltungen zu Sylvester, bei denen Millionenbeträge buchstäblich verpulvert werden, sind in diesem Zusammenhang

ebenso zu erwähnen wie die von Jugendlichen besuchten Tanzlokale und Diskotheken.

Es gibt Rock-Gruppen, die Lautstärken zwischen 110 bis 127 Dezibel produzieren; das ist mehr als der in Betrieben der Schwerindustrie übliche Schallpegel und überschreitet teilweise bereits die Schmerzschwelle, die ungefähr zwischen 120 bis 125 Dezibel liegt. Hierher gehören auch jene Rowdies, die mit „frisierten" Mopeds durch die Nacht rasen, oder die in den Sportstadien grölenden Fußballfans.

Lärm ist, so müssen wir aufgrund dieser und ähnlicher Beobachtungen schließen, eiii menschliches Urbedürf-nis. Der Mensch hält es in der Stille nicht lange aus. Er muß sich mitteilen.

und offenbar genießt er es, seine Existenz in kollektivem Lärm expressiv zur Geltung zu bringen. Stille war von jeher die Ausnahme, eine den stärksten Instinkten abgerungene Leistung …

Stille als Gegensatz zum Lärm ist die Frucht einer Disziplin, die nur ausnahmsweise gelingt. Dies gilt für Individuen wie für Gemeinschaften. Eben deshalb haben Mystiker und Heilige aller Zeiten die Stille als etwas Numino-ses und Göttliches empfunden.

Jede Kultur der Stille hat einen sakralen Zug, ist ein Abglanzjenes himmlischen Friedens, von dem es heißt, daß er höher sei als alle Vernunft.

„In Umkehr und Ruhe werdet ihr befreit. In Stillesein und Gelassenheit ruht eure Stärke", heißt es bei dem Propheten Jesaja. Ein tibetisches Sprichwort lautet: „Botschaften der Seele stellen sich nur schweigend ein, so schweigsam wie die Sonne, wenn sie die Dunkelheit der Welt durchdringt."

Dies ist die Botschaft der Wenigen, der Auserwählten und Vornehmen, der Heiligen, Dichter und Weisen durch Jahrtausende. Der wilde, undisziplinierte und gnadenlose Mensch hingegen - so wie er eben „von Natur" ist -hat sich von jeher als Widersacher der Stille erwiesen. In jedem von uns steckt ein tobsüchtiges, randalierendes und für alle Arten von Krawall anfälliges Wesen.

Homo sapiens ist nicht der ganze Mensch, so wie er leibt und lebt; immer ist er auch homo demens, erfüllt von einer ständig au f der Lauer liegenden Bereitschaft zum explosiven Radau. Lärm ist deshalb nicht nur ein technisches, juristisches oder medizinisches Problem, sondern ein anthropologisches. Ihm entspricht eine fundamentale Anlage des Menschen.

Immer kleiner werden die Oasen der Stille, denen wir jede höhere Kultur verdanken. Klingt nicht schon das bloße Wort „Stille" fast so altmodisch wie „Innigkeit", „Jungfräulichkeit" und „Tugend"? Wie es wohl auch kaum zufällig ist - „denn was innen, das ist außen" - , daß in unserer von Delirien des Lärms gerüttelten Zivilisation der Sinn für die spirituelle Bedeutung des Zölibats zu versiegen scheint.

Trotz dieser unbestreitbar düsteren Aussichten müssen diejenigen, denen es mit der Stille ernst ist, nicht verzweifeln. Es gehört zu den guten Vorzeichen, daß heute die engen Zusammenhänge zwischen Umweltkrise und Lärm, zwischen Rettung der Natur und Kultur der Stille nicht nur von religiös orientierten Dichtern und Denkern, sondern auch von Biologen, Verhaltensforschern und Sozialpsychologen erkannt werden.

In die gleiche Richtung weist das zunehmende Interesse vor allem junger Menschen an alten wie neuen Formen der Meditation - auch wenn wir illusionslos in Rechnung stellen müssen, daß dabei bisweilen auch Neugier, Exotismus und ein pubertäres Haschen nach Sensationen mitspielen.

Mehr und mehr Menschen beginnen einzusehen, daß man den Lärm verringern, daß man sich gegen ihn auch wehren kann - mit technischen, juristischen und langfristig auch pädagogischen Mitteln.

Dies alles ist freilich bei weitem noch nicht ausreichend. Die Stille, um die es geht, ist mehr als bloßer Anti-Lärm, mehr als nur Abwesenheit von äußeren Geräuschen. Wesentliche Stille muß ethisch, um nicht zu sagen, rhetaphy-sisch fundiert sein: als eine Verfassung unserer Existenz, die uns befähigt, sogar in einer lärmenden Welt Stille zu erfahren.

Solche Stille hat nichts zu tun mit phlegmatischer Stumpfiieit, gespielter Ruhe oder nostalgischer Weltflucht.

Es gibt noch immer stille Orte, die auf uns warten. Sie können uns jene verschwiegene Höflichkeit lehren, die einen im engeren wie weiteren Sinne gebildeten, reifen und kultivierten Menschen kennzeichnet. „Das Beste ist die tiefe Stille", notierte Goethe am 13. Mai 1780, „in der ich gegen die Welt lebe und wachse und gewinne, was sie mir mit Feuer und Schwert nicht nehmen können."

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