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Tolerant ist nur der Überzeugte

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In Erwiderung auf einen Beitrag von Wilhelm Czerny (FURCHE 3/83), der auf die Diskrepanz von christlicher und liberaler Weltanschauung hingewiesen hat, versucht der folgende Artikel eine differenzierte Sicht dieser Beziehung zu entwik-keln.

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In Erwiderung auf einen Beitrag von Wilhelm Czerny (FURCHE 3/83), der auf die Diskrepanz von christlicher und liberaler Weltanschauung hingewiesen hat, versucht der folgende Artikel eine differenzierte Sicht dieser Beziehung zu entwik-keln.

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Wenn man über Liberalismus ernstlich reden will, muß man sich vor Augen halten, daß es davon vier echte Formen gibt, aber heute auch eine aus Amerika importierte falsche, eine charakterlose, innerlich widersprüchliche, leicht rötlich schimmernde, eklige Mischung von Libertinismus, Indifferenz, Sexualdemokratie, Sozialismus, zweiter Aufklärung und Prinzipienlosigkeit, die auch in einigen zeitgenössischen liberalen Parteien nistet. Mit dieser falschen Form wollen wir uns hier nicht beschäftigen.

Beginnen wir einmal mit der Feststellung, daß der Ausdruck liberal spanischen Ursprungs ist. „Los Liberales" waren die An-

hänger der Verfassung von Cadiz (1812), die eine konstitutionelle Monarchie - das alte abendländische Ideal einer Mischregierung - verwirklichte.

Doch schon vor 1812 gab es Liberale. Zu diesen Praeliberalen gehören Adam Smith, Urvater der freien Marktwirtschaft, und Edmund Burke, ein Ire mit katholischer Mutter, den man aber auch einen Praekonservativen nennen könnte.

Robert Southey schrieb 1816 noch über „our British Liberales" in der spanischen Schreibweise (nicht „liberals") und Sir Walter Scott verwendete die französische Orthographie „liberaux". Die Wurzeln des Liberalismus liegen also im katholisch-konservativen Humus.

Diesen Praeliberalen folgten die Frühliberalen, alles Patrizier und Aristokraten, zumeist katholischen Glaubens: Alexis de Toc-queville, Montalembert, Acton und Jacob Burckhardt. (Nur Burckhardt war Agnostiker.) Sie sind wirtschaftlich wenig interessiert, dafür um so mehr politisch, kulturell und sozial.

Das freiheitliche und personali-stische Element, das ja die Essenz des Liberalismus ausmacht, ist in ihnen deutlich vertreten. Der nun stark hervortretenden Renaissance der Demokratie stehen sie ablehnend gegenüber, denn sie erinnern sich an die Blutorgien der Französischen Revolution und an die Warnung Piatos, daß die Ty-rannis sich in der Regel aus der Demokratie entwickelt.

De Tocqueville hatte zudem die prophetische Vision von der Weiterentwicklung der Demokratien hin zum Versorgungsstaat. Der Schweizer Johann Bachofen formulierte dies sehr einfach: „Ich hasse die Demokratie, weil ich die Freiheit liebe." Den inneren Gegensatz zwischen Freiheit und Gleichheit sahen sie alle sehr deutlich. Und schon Goethe schrieb: „Gesetzgeber und Revolutionäre, die Gleichsein und Freiheit zugleich versprechen, sind Phantasten oder Scharlatans." (Maximen und Reflexionen, No. 953)

Die Altliberalen, zum Teil Zeitgenossen, zum Teil Nachfolger der Frühliberalen (man darf nicht vergessen, daß die Liberalismen sich zeitlich überschneiden), waren stark volkswirtschaftlich engagiert, griffen auf Adam Smith zurück, versuchten (vergeblich), sich mit der Demokratie zu versöhnen und machten anfangs den großen Fehler, Toleranz mit Indifferenz gleichzusetzen.

Sie gingen nur zu oft in die Falle des philosophischen Relativismus und glaubten, daß nur der religiös Ungebundene wahrhaft tolerant sein kann. Tolerant sein heißt aber nicht gleichgültig, sondern „duldsam" sein, das Anderssein und die anderen Ansichten des Anderen zu „erdulden".

In diesem Sinn hat nur der vollauf überzeugte (und gläubige) Mensch die Möglichkeit (aber auch nicht mehr) tolerant zu sein, was eine Bereitschaft Opfer zu bringen und Schmerz zu ertragen bedingt. Der „Wertfreie" kann logischerweise nur mit den Schultern zucken.

Tatsächlich gab es aber auch eine „altliberale Intoleranz". Kein Wunder, daß der Altliberalismus mit dem Christentum und besonders mit der katholischen Kirche in Konflikt geriet. (Siehe Artikel 80 des Syllabus!) Die späteren Altliberalen sahen aber oft die Irrtümer der früheren Periode ein: die Synthese mit der Demokratie und die Glaubensfeindlichkeit.

Auf wirtschaftlichem Gebiet gingen sie stark auf den Praelibe-ralismus zurück, und eines der geistigen Ruhmesblätter Österreichs ist die Wiener Volkswirtschaftliche Schule — Menger, Böhm-Bawerk, Wieser, Mises, Hayek, Haberler, Machlup.

Als 1947 in der Schweiz eine internationale liberale Gesellschaft gegründet wurde und Friedrich von Hayek und Wilhelm Röpke den Vorschlag machten, sie De Tocqueville-Acton-Gesellschaft zu nennen, protestierte der Alt-Altliberale Professor Frank Knight von der Chicago School of Economics gegen diese Benennung nach „zwei römisch-katholischen Aristokraten".

Damals gab es eben auch schon Neuliberale, deren hervorragendste Vertreter Wilhelm Röpke, Alfred Müller-Armack, Alexander Rüstow, Ludwig Erhard und Walter Eucken waren.

Von den monetaristischen Altliberalen (der Chicago School) unterschieden sie sich zum Teil durch großen Nachdruck auf ethische Werte, durch ihre Nähe zum oder Verbindung mit dem Christentum, ihren Traditionalismus und ihren starken Bezug auf die Frühliberalen. Sie waren jedoch Feinde des Kolossalismus und Monopolismus, da sie in der lebendigen Konkurrenz eine absolute Voraussetzung für die freie Marktwirtschaft sahen.

Sie waren gegen Trusts und bejahten das Recht der Regierung auf eine echte Währungspolitik. Mit anderen Worten: Ihr Wirtschaftsliberalismus ist weniger absolut. Diese Haltung führte, neben anderen Ursachen, 1961 zu einem Schisma in der Mont Pėle-rin Gesellschft. Es war sicher auch bezeichnend, daß die Neuliberalen vorwiegend Deutsche (und Franzosen) waren, die sich weltanschaulich viel eher den Unionsparteien als der FDP verbunden fühlten.

1963 fand in Augsburg eine zweitägige Neuliberale-Katholische-Aussprache statt, an der der Schreiber dieser Zeilen (zusammen mit Professor Götz-Briefs, Röpke, Rüstow, u. a.) auf der neuliberalen Seite teilnahm.

Im totalitären Rahmen hat der echte Liberalismus keine, im demokratischen nur sehr geringe Erfolgsmöglichkeiten. Das allgemeine Wahlrecht brachte den liberalen Parteien überall schwere Verluste. In der Regel ziehen die Massen eine (vermeintliche) Sicherheit der Freiheit vor.

Die Formel „ein guter Christ ist ein Liberaler, der sich selbst vergißt" hat sicherlich einen wahren Kern, denn erst durch das Christentum ist die antikollektivistische und der Staatsvergötterung feindliche Hochwertung des Personalen in die Welt gekommen. Wahres Christentum ist liberal, denn der Christ ist, wie Guardini sagt, gebunden - aber in Freiheit gebunden.

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