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Toleranz—Tugend oder Schwäche ?

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Viele Vorträge bei den Wiener Toleranzgesprächen reichten nicht aus, den Begriff Toleranz zu klären. Der Autor untersucht die Widersprüchlichkeit des Begriffes.

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Viele Vorträge bei den Wiener Toleranzgesprächen reichten nicht aus, den Begriff Toleranz zu klären. Der Autor untersucht die Widersprüchlichkeit des Begriffes.

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Zunächst lange und schmerzlich gefordert, wurde ihre Durchsetzung als große Errungenschaft der Aufklärung begeistert begrüßt, galt sie als Paradetugend des Liberalismus, als Voraussetzung demokratischer Gesellschaft, mußte sich aber auch als repressiv verketzern lassen: die Toleranz.

Der lange Weg, den die Toleranz vom sogenannten Toleranzpatent Josephs II. durch zwei Jahrhunderte in unsere Gegenwart zurückgelegt hat, hat ihre Problematik keinesweg verringert oder gar abgebaut, auch wenn sich eine pluralistische Gesellschaft kaum ohne sie vorstellen läßt.

Man kann daran zweifeln, ob sie überhaupt eine Grundkategorie menschlichen Verhaltens oder Daseins darstellt, man kann sie als Notwendigkeit für menschliches Zusammenleben überhaupt oder auch als eher anrüchige Alibiforderung verstehen, als einen Luxus sich das Nebeneinander mehrerer Meinungen zu leisten, wie man sich zwei Autos oder zwei Häuser leistet: spätestens dort aber, wo wir Intoleranz am eige-

nen Leibe erfahren, wird sie eingefordert und eingeklagt werden.

Uberflüßig an die zahllosen Manifestationen von Intoleranz zu erinnern, die bis zur Vernichtung von Menschenleben reichen können. Die Intoleranz totalitärer Systeme gegenüber Andersdenkenden, Andersfarbigen, Andersgläubigen oder Anderslebenden potenziert nur die Intoleranz des Bereiches zwischen Mann und Frau, zwischen Generationen, politischen Meinungen und religiösen Wahrheiten.

Sie ist also so selbstverständlich nicht, die Toleranz, die wir doch andererseits vorauszusetzen genötigt sind, soll menschliches Zusammenleben überhaupt ein menschliches sein. Tolerieren heißt dulden, ertragen, aushalten, andere Meinungen, Wünsche, Interessen, Bedürfnisse. Diese scheinbare Passivität darf aber nicht dazu verführen, der Toleranz jedwede Aktivität abzusprechen. Im Gegenteü: sie ist — ob privat oder öffentlich — immer ein Akt der Selbstüberwindung, des mitunter sehr schmerzlichen Verzichtes zugunsten der Anerkennung der Ansprüche des anderen.

Daß sie, wie jede andere Tugend oder moralische Forderung, mißbraucht werden kann, daß es zahllose Fehlformen von Toleranz gibt, entwertet sie nicht von vorneherein.

Vieles davon kam — tolerant oder intolerant — auch bei den ,',Toleranzgesprächen" zur Sprache, die von der Stadt Wien kürzlich an fünf Tagen mit wechselnden Schwerpunkten — von der Wirtschaft über Generationskonflikte bis zu Politik und Religion— durchgeführt wurden. Auch fehlte es nicht an klingenden Namen. Hans Georg Gadämer, der den Eröffnungsvortrag hielt, Engelbert Broda, Freimut Duve, Karl Popper, Jeanne Hersch, Paul Watzla-wick, Klaus von Bismarck, Norbert Leser, Pinchas Lapide, um nur einige zu nennen, führten unter nicht minder prominenten CModeratoren Podiumsdiskussionen oder auch solche mit dem Publikum, in dem die junge Generation stark vertreten war.

Viele Facetten des Problems wurden hin- und hergeschoben und gewendet, manchmal kam in Anfragen oder Antworten auch wesentliches zur Sprache.

Daß es leicht sein würde. Fehlformen der Toleranz zu entlarven, stand von vorneherein fest. Daß Toleranz nicht mit Gleichgültigkeit oder Interesselosigkeit gegenüber anderen religiösen, politischen, moralischen Uberzeugungen verwechselt werden darf, mit einem standpunktlosen „Laissez-faire" wie mit jener Form arroganter Duldung, im Bewußtsein unumstößlicher Macht, hegt ebenso auf der Hand. Schwieriger schon steht es um die Frage nach der Konfliktentschärfung durch die Toleranz. Neigen wir doch allzuleicht dazu, unter der Forderung nach Toleranz Konflikte gar nicht erst wahr-oder ernst zu nehmen, sie gewissermaßen zuzuschütten. Aber genauso wie Toleranz Ernstnehmen des Andersartigen fordert, kann sie nur dort gedeihen, wo sie den Konflikt erträgt und damit einen Freiraum für seine Austragung und Lösung ermöglicht.

Vollends in einen grundsätzlichen Widerspruch aber scheint die Toleranz dort zu geraten, wo sie ihrer Negation, der Intoleranz gegenübersteht.

Dieses ausweglos scheinende Dilemma rührt an das Grundproblem pluralistischer Gesellschaften oder gegenwärtiger demokratischer Systeme, wofür sich von der Selbstaufhebung der Weimarer Republik bis zum Terrorismus unserer Tage genügend Beispiele aufzählen ließen. Wo immer Toleranz mit Absolutheitsansprüchen konfrontiert wird, wo Fanatismus und — gerade im politischen Handeln — perfid-perfektes Ausnützen des von ihr eröffneten Freiraumes zu dessen Mißbrauch sie an die Grenzen ihrer selbst bringen, bleibt jeder Appell an eine' gemeinsame Vernunft ungehört.

Wer sich im Besitz einer absoluten Wahrheit vermeint und damit die Endlichkeit, Beschränktheit und Fehlbarkeit menschlichen Daseins negiert, setzt die Toleranz einer Feuerprobe aus, stellt sie vor die Frage einer vielleicht notwendigen Intoleranz, die aufgebracht werden muß, damit die Toleranz selbst zu überleben vermag.

Dafür gibt es keine allgemeingültigen Rezepte, genausowenig, wie es ein Toleranzpatentamt geben kann, bei dem Rat zu suchen wäre. Diese Grenze auszumitteln bleibt dem einzelnen ebenso aufgetragen wie jenen politischen Instanzen, die im Kräftespiel der gesellschaftlichen Verflechtungen das Schicksal einer Gemeinschaft lenken.

Es gibt keine Toleranz ohne Selbstüberwindung aber auch keine, die Selbstaufgabe bedeutete. Toleranz ist auch nicht Nächstenliebe, sie eröffnet aber den Raum für eine solche. Darum kann sie anders als Liebe auch gefordert werden. Denn diese Forderung, die damit den anderen als ebenbürtig anerkennt, ist ja nichts Intolerantes.

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