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„Tolkatschi“ kommt sofort

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Der sowjetische Parteitag ist mit hehren Reden und neuen Versprechungen für die sowjetischen Massen zu End gegangen. Wie viel von den neuen Jahresplänen zu halten ist, zeigt die Realität. Experten befürchten, daß auch die neuen wirtschaftspolitischen Direktiven nichts an den Zuständen in der Sowjetwirtschaft ändern werden.

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Der sowjetische Parteitag ist mit hehren Reden und neuen Versprechungen für die sowjetischen Massen zu End gegangen. Wie viel von den neuen Jahresplänen zu halten ist, zeigt die Realität. Experten befürchten, daß auch die neuen wirtschaftspolitischen Direktiven nichts an den Zuständen in der Sowjetwirtschaft ändern werden.

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In Moskau begrüßten meterhohe Plakate die Parteidelegierten: „Brot ist das Produkt aller Produkte!“ In der schlechter versorgten Provinz bilden sich lange Käuferschlangen nach Brot und Kartoffeln.

Doch eine Hungersnot wie in den dreißiger Jahren wird es nicht geben. Privatinitiative und kapitalistischer Uberfluß lassen es nicht dazu kommen. Aus dem „kapitalistischen“ Ausland rollen die Weizentransporte an — rund 30 Millionen Tonnen für zwei Milliarden Devisenrubel.

In Rußland selbst haben Schrebergärtner und Bahndamm-Kartoffelzüchter Hochkonjunktur. Sie scheuten in den heißen Sommermonaten keine Mühe, ihre Peldfrüchte pfleglich zu wässern. Selbst staatliche Aufkäufer sind unterwegs, um aus privaten Kartoffelbeständen ihr Plansoll zu Überpreisen zu decken.

Auf Moskaus Kolchosmärkten spielen die Preise verrückt. Ein Kilogramm Tomaten kostet um diese Jahreszeit fünf bis sechs Rubel. Das ist dreimal soviel wie in normalen Jahren. Auch Äpfel, ■ Gurken und Kartoffeln erzielen Höchstpreise.

In den Stalinschen Not- und Hungerjahren als Ventil für aufgestauten Konsumdruck gegründet, sind die privat beschickten Kolchosemärkte — und nicht die Staatsläden — über alle Wechselfälle des Plan-Alltags hinweg die eigentlichen Versorgungsbasen der Großstädte geblieben. Dort erhält man alles, was es in den schlecht versorgten und geführten Staatsläden nicht oder nicht in ausreichender Menge und Qualität gibt — allerdings zu Preisen, die dem Gesetz von Angebot und Nachfrage folgen.

Schuld an den hohen Marktpreisen sind die permanenten Versorgungskrisen der zu Beginn der dreißiger Jahre zwangskollektivierten Landwirtschaft. Auf den fruchtbaren Schwarzerdeböden der Ukraine und des Kuban könnten Obst und Gemüse im Überfluß gedeihen. Doch für die in Kolchosen gepreßten Bauern lohnt sich der Anbau nicht. Die Arbeiter der „Gemü-

sebrigaden“ erhalten einen niedrigeren Lohn als andere Landarbeiter. Ihr Einkommen richtet sich außerdem nach dem Gesamtgewicht des geernteten Gemüses. Folglich wird vor allem Weißkohl, Hauptzutat des russischen Nationalgerichts Borschtsch, angebaut.

Rentabel wird die Marktproduktion für den Kolchosnik erst dann, wenn sie auf eigene Rechnung geht. Auf seinem privaten Hofland — laut Gesetz sind 0,2 Hektar zur eigenen Nutzung zugelassen — baut er Obst, Blumen und Gemüse an, zieht Schweine, Hühner und Sonnenblumenöl. So hatten nach einer Untersuchung der „Komsomolskaja Prawda“ zweitausend Bauern einer ukrainischen Kolchose fast zweihundert Hektar ihres Privatlandes mit seltenen und teuren Plastikfolien abgedeckt, um darunter privat die begehrten Frühgurken zu ziehen.

Georgier und Armenier fliegen vom Schwarzen Meer nach Moskau mit Koffern voll von Obst oder Paradeisern, die leicht dreifach den Flugpreis einbringen. Zwar hat die staatliche Fluggesellschaft „Aeroflot“ jetzt das Gewicht des Passagiergepäcks drastisch begrenzt. Aber mit einem Präsent, einem Korb voll von Obst etwa, läßt die Aufmerksamkeit bei der Gepäckwaage schlagartig nach.

Rußlands Großstadtbewohner — rund hundert Millionen Menschen — wären längst verhungert, der Traum vom Sozialismus ausgeträumt, gäbe es nicht die blühenden Privatäcker. Sie bedecken nur 0,9 Prozent der gesamten Anbaufläche der Sowjetunion. Aber zwei Drittel der Kartoffelernte, über die Hälfte aller Eier, Jast die Hälfte der Fleischerzeugung, 37 Prozent der Milch und 39 Prozent des Gemüses kommen von diesen privaten Hoflandparzellen.

Private Vorsorge hilft auch über die mannigfachen Fährnisse des Planalltags hinweg. Besonders ärgerlich ist der chronische Ersatzteilmangel. Die sowjetische Wirtschaft ist fast ausschließlich auf Produktion ausgerichtet. Für Kundendienst

und Reparaturen sind kaum Mittel eingeplant. So kann der Bedarf an Bolzen und Muttern in der Sowjetunion seit Jahren nur zur Hälfte, der Bedarf an Schrauben nur zu einem Fünftel gedeckt werden. Die Moskauer „Wirtschaftszeitung“

klagte: „Es ist in der UdSSR leichter, ein Walzwerk zu kaufen als einen Dichtungsring.“

Haushaltsreparaturen werden offiziell von staatlichen Reparatur-Brigaden ausgeführt. Man schätzt jedoch, daß bei zwei Dritteln aller Haushaltsreparaturen in Moskau jedes Jahr mehr als dreißig Millionen Mark Schmiergelder gegeben und genommen werden.

Eine andere, spezifisch sowjetische Abart des Privatunternehmertums sind die „tolkatschi“ (von „tokatj“, anstoßen). Sie verdanken ihre illegale, aber staatlich geduldete Existenz der häufig stockenden Materialzufuhr in der bürokratisch reglementierten Sowjetindustrie. Ob bei der Beschaffung von Zement, Autoreifen, Armaturen, Wasserpumpen oder Keilriemen — es gibt nahezu keinen Bereich, der sowjetischen

Planwirtschaft, in dem die „tolkatschi“ nicht ihre Beziehungen spielen ließen. Viele Fabriken schließen regelrechte Verträge mit solchen „Vermittlern“ ab, um sich gegen die Wechselfälle des Planalltags mit seinen unangenehmen Folgen wie Prämienverlust und Vertragsstrafen rückzuversichern.

Das Beispiel der „tolkatschi“, der Hobby-Landwirte und der Schabaschniki ist ein schlagender Beweis dafür, daß Unternehmerinitiative, Emfallsreichtum und Risikobereit-

schaft auch und gerade in einer vollsozialisierten Wirtschaft unentbehrlich sind und durch keinen noch so ausgeklügelten bürokratischen Lenkungsmechanismus ersetzt werden können.

Es ist dieser von den Kommunisten in den Untergrund gerdrängte kapitalistische Wirtschaftsgeist, der sich in allen östlichen Staatswirtschaften mit naturgesetzlicher Kraft durchgesetzt hat, und der das Leben in einer staatlich reglementierten Planwirtschaft erst erträglich macht.

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