7038777-1990_08_03.jpg
Digital In Arbeit

Torschlußpanik

19451960198020002020

Die nicht endende Aussied­lerwelle aus der DDR macht auch der Bundesrepublik zunehmend Sorgen. Die Wahlkämpfe in den beiden Deutschland verstärken die Probleme miteinander.

19451960198020002020

Die nicht endende Aussied­lerwelle aus der DDR macht auch der Bundesrepublik zunehmend Sorgen. Die Wahlkämpfe in den beiden Deutschland verstärken die Probleme miteinander.

Werbung
Werbung
Werbung

Ein Gespenst geht um in Europa-Ost. Vielleicht nie da­zuzugehören zum Wirtschaftswohl­stand-West. Denn wo das alltägli­che Brot so hart ist wie Stein (Bu­karest) und das Trinkwasser schlicht giftig (Krakau), da schaut man hinüber zu Milch und Honig. Ob wir es gerne hören, wir im We­sten sind „Sieger", wir sitzen ein­fach am langen Hebel! Fast banal, es zu sagen, er besteht aus zwei Teilen: Einer funktionierenden Wirtschaft und stabiler Währung auf der einen, Angst und Armut auf der anderen Seite. Nirgends wird dies deutlicher als an der deutsch­deutschen Nahtstelle, der einst schärfsten Trennlinie der Blöcke.

Der historische Ort des Novem­berumbruchs, die Montagsdemon­strationen in Leipzig, zeigt den Wandel. Es begann mit den Parolen „Wir bleiben hier" und „Ein freies Lartd für freie Bürger", es folgte „ Deutschland, einig Vaterland" und endet mit einer Torschlußpanik, „Kommt die D-Mark, blieben wir, kommt sie nicht, gehen wir zu ihr". Die schnelle Übernahme der DDR gilt als beschlossene Sache und eröffnet für (West-)Deutschland den größten Eigentumserwerb seit dem Polenfeldzug. Jetzt schon be­stimmt das kleine Bonn den Zeit­plan, dem sich dann am 18. März bei den ersten freien DDR-Wahlen die Berliner Regierung unterwer­fen darf: Falls Modrow und sein Kabinett des Runden Tisches über­haupt bis zum Wahltag durchhal­ten. Denn der „dramatische Verfall der Staatlichkeit" (Modrow) bringt die Ereignisse zum Baumeln. Nach­dem die deutsche Frage erst vor drei Wochen „auf die europäische Tagesordnung" gesetzt wurde (Gorbatschow), beschlossen nun die Regierungen an Rhein und Elbe, unverzüglich eine Währungsunion anzusteuern. Ein Wirtschäf tsäben-teuer stehe bevor, das in der Wirt­schaftsgeschichte der Welt ohne Beispiel sei, beteuert man auf bei­den Seiten des Hebels. Die Nach-kriegs-Währungsschnitte seien dagegen ein einfacher Akt gewe­sen. Die einst schiere Utopie, die deutsche Einheit über den Offen­barungseid des real praktizierten Kommunismus erreichen zu wolen, ist nun teure Realität. Bankiers aller Schattierungen, die noch Anfang des Monats die Einführung der D-Mark in der DDR allenfalls am Ende eines langen Anpassungs-prözesses der maroden Ost-Wirt­schaft für möglich und sinnvoll gehalten hatte, sehen sich veran­laßt umzuschwenken, damit die DDR nicht vollkommen ausblute.

In der Wirtschaftspolitik gilt schon ab morgen keine Parität mehr zwischen Hans Modrow und Hel­mut Kohl, sondern der Hüne aus Bonn fixiert die Priorität: Die D-Mäfk-Experten werden den Ost­mark-Experten erklären, wo es lang geht. Kein Wunder, daß nicht nur jene unruhig werden, denen die Entwicklung in der Mitte Europas ohnehin zu schnell und gegen den Strich geht. Ängste werden beider­seits der bröckelnden Mauer wach. Denn wie außer Schulden auch eigenes Vermögen in die Ehe ein­bringen? Eine bange Frage in Leip­zig, wo sich die Bürger panikartig um ihre Sparguthaben sorgen. Werden sie gesperrt oder zu einem schlechten Kurs bis hin zu 1:8 aufgelöst? Wie steigen die Preise und Mieten? Wen erfaßt die drohende Arbeits­losigkeit? Oder wird man so gutmütig sein und alles so­zial abfedern?

Aber Kohl läßt nicht nur Modrow zappeln, sondern eine Spur von Nötigung schwingt mit, wenn vom Rhein aus verkündet wird, man könne von den Bundes­bürgern nicht materielle Op­fer erwarten, nur damit der Lebensstandard sich bei den Brüdern und Schwestern im Osten sprunghaft verbessere oder gar der Lebensstandard auf der langen Seite des He­bels falle, um sich auf einem „Mittelmaß" zu nivellieren.

Aber weitaus am»schlimm-sten wirkt das Fehlen eines Gemeinschaftsgefühls, eines gesunden Nationalbewußt­seins, einer offenen Hilfsbereitschaf t. Kein Bürger Osteuropas ist schuld am Chaos, das die Kom­munisten als Erblast hinterließen. Wo sind die großen Worte aus bun­desdeutschem Politikermund ge­landet, als es euphorisch hieß, „durch die Revolution in der DDR haben wir im Westen unsere Frei­heit wiedererlangt". Zum Nulltarif bekommt man erst recht keine Frei­heiten geschenkt.

Zur Kasse gebeten werden die Besserbestellten. Aber sie geben nichts her. Obwohl Soforthilfe angesagt ist, wartet man bis zum Wahltag „drüben". Eine große Hilfskoalition will man nicht am Schöpfe packen. Weshalb jetzt Geld nach Thüringen oder Sachsen pumpen, wenn vielleicht nicht „unsere Leute" die ersten freien Wahlen gewinnen, fragt sich die CDU/CSU. Die SPD-West wagt den offenen Konflikt nicht, um den Wahlerfolg der SPD-Ost nicht zu gefährden. Wahlkampf vor Hilfe.

Und dabei vergessen beide Sei­ten, sie haben noch die Chance auf „Deutschland, einig Wirtschafts­wunderland", die DDR-Bürger werden, vielleicht auch erst spät, Anteil haben am Wohlstand-West. Es ist an der Zeit, daß westliche Regierungen die andere Hälfte Europas dem alten Kontinent zu­rückführen, dazu Programme aus­arbeiten, denn ansonsten droht eine schreckliche Utopie Realität zu werden: Anschluß an die deutsche Mittelmacht durch Armut und Demütigung.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung