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Tote Autoren, springlebendige Regisseure…

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Ein heißes Eisen sollte von den zum 3. Österreichischen Theatertag nach Wien gereisten Theaterleuten angepackt werden. Das heiße Eisen hieß: „Interpretation oder Manipulation - Möglichkeiten und Grenzen der Stückbearbeitung durch Dramaturgen und Regisseure“. Man hütete sich, das heiße Eisen allzu fest anzupacken. Es gab nur wenige Brandwunden. Daß es geschmiedet wurde, kann man auch nicht behaupten. Eher wortreich ziseliert, auch zierlich balanciert, und - weitergereicht.

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Ein heißes Eisen sollte von den zum 3. Österreichischen Theatertag nach Wien gereisten Theaterleuten angepackt werden. Das heiße Eisen hieß: „Interpretation oder Manipulation - Möglichkeiten und Grenzen der Stückbearbeitung durch Dramaturgen und Regisseure“. Man hütete sich, das heiße Eisen allzu fest anzupacken. Es gab nur wenige Brandwunden. Daß es geschmiedet wurde, kann man auch nicht behaupten. Eher wortreich ziseliert, auch zierlich balanciert, und - weitergereicht.

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Es sprachen und diskutierten Dramaturgen und Regisseure, Übersetzer und Bearbeiter, Juristen, Intendanten und Theaterverleger - und auch ein leibhaftiger Autor, nämlich Hartmut Lange. Der aber nicht etwa infolge abgefeimter Regie, sondern durch eine spät erfolgte Absage von Peter Turrini allein auf weiter Flur blieb. Doch diese Einsamkeit des lebenden Autors in der Runde der Manipulatoren und der Ankläger der Manipulation, der Bearbeiter und der Infragesteller jeder Bearbeitung, entbehrte nicht eines erheblichen Symbolgehaltes. Auch verschwand Hartmut Lange sehr bald, vielleicht fühlte er sich etwas deplaciert. So konnte, ungestört durch aufmüpfige Autoren, herrlich darüber diskutiert werden, was sich Autoren gefallen lassen müssen und was nicht, und was sie sich auch dann, wenn sie nicht müssen, besser doch gefallen lassen.

Offenbar haben, wer hätte es nicht geahnt, tote Autoren gegenüber allzu respektlosen Herumfuhrwerkern immer noch einen wesentlich besseren Stand als lebende. Bearbeitet werden die einen wie die anderen, aber ein toter Dichter ist entweder durch Nichtgespieltwerden vor jeder Manipulation geschützt - oder er findet Verteidiger. Für einen krampfhaft wider den Strich gebürsteten Klassiker steigt zumindest die vereinigte Streitmacht der Deutschprofessoren auf die Barrikaden, ganz zu schweigen von der Kritik und von den Giftpfeilen der Kollegen des betreffenden Manipulators. Der lebende Autor hat nur seinen Verleger. Und den Anwalt, wobei aber vielleicht der beste Anwalt meistens der ist, mit dem man nur droht. Eine Hauptgefahr für die lebenden Autoren, vor allem die wenig bekannten, ist die Verwechslung einer schlechten Regie mit einem guten Stück - die danebengeratene Inszenierung wird für das Stück genommen, dieses geht mit ihr unter. Einem Bühnenwerk von Muschg soll unlängst dieses Schicksal widerfahren sein.

Goethes Faust hingegen wird trotz der Dinge, die dem Regisseur Krejcar dazu eingefallen sind, sicher wieder einmal inszeniert.

Wie soll ein biederer Theaterbesucher wirklich erkennen, welche Elemente einer szenischen Realisation vom Autor sind und welche vom Regisseur? Der Text wird meist respektiert, da ist das Urheberrecht und da sind die Verlage sehr streng (für manche Regisseure sicher auch ein Grund, sich an vogelfreie Tote mit abgelaufener Schutzfrist, mit denen man machen kann, was man will, zu halten). Obwohl auch da einiges möglich ist. Zum Beispiel (in Bremen) eine „Maske in Blau“, bei der wesentliche Melodien fehlten und dafür die Kennmelodie der Fernsehsendung „Stahlnetz“ eingefügt worden war (der Unfug wurde gerichtlich abgestellt). Oder eine „Endstation Sehnsucht“ (in Berlin), wo der Pole Kowalski durch einen Neger ersetzt, dies der Öffentlichkeit gegenüber als Teil eines progressiven Regiekonzeptes dargestellt und nach einem Einspruch von Tennessee Williams der Neger mit weißer Schminke und einer blonden Perücke in den im Stück vorgesehenen Weißen zurückverwandelt wurde. Die Leiterin des Bühnenverlages von Kiepenheuer und Witsch, Maria Sommer, schüttelt leidvolle Erfahrungen dieser Art offensichtlich aus dem Ärmel. Ob nun in den „Emigranten“, wo Mrozek größten Wert auf die absolute Abgeschlossenheit des Zimmers legt, dem Regisseur eine „zweite Ebene“ einfällt, auf der sich Partygäste tummeln, von denen man nur die Beine sieht, oder ob das von Rözewicz in der „Kartothek“ vorgesehene Essen eines Apfels in einen zirkusreifen Balanceakt mit fünf Äpfeln und der Auftritt einer Sekretärin mit Stenogrammblock von Peter Zadek in das Hereinfahren einer unter einer Frisierhaube sitzenden, sich die Nägel manikürenden Dame verwandelt wird.

Fazit einer Tagung: Niemand will das Kind mit dem Bad ausgießen und die Klassiker unter einen gesetzlich zementierten Denkmalschutz stellen. Aber auch die Absicht, Inszenierungen urheberrechtlich zu schützen, die vor einiger Zeit allen Ernstes ventiliert wurde, dürfte ein für allemal erledigt sein. Man hat erkannt, daß die Patentierung jedes neuen Regieeinfalles für denjenigen, der ihn hatte, zu einer totalen Erstarrung des Theaters führen und genau das zerstören würde, was die „entfesselte Regie“ sich als Verdienst anrechnet, nämlich eine Verlebendigung des Theaters.

Die Erwähnung einzelner Stellungnahmen ist so ungerecht, aber unumgänglich wie die einzelner Schauspieler in einer einheitlichen, geschlossenen, niveauvollen Theateraufführung mit überlanger Besetzungsliste. Hans Hollmann berief sich nicht nur auf das pointiert servierte Brecht-Zitat „Man kann die Klassiker bearbeiten, wenn man es kann“, sondern trat auch kräftig, aber keineswegs ungezielt ins Fettnäpfchen, als er von jenen die Freiheit des Theaters, seiner Intendanten, seiner Regisseure beeinträchtigenden Zwängen sprach, deren Definition (Zensur oder nicht?) hinlänglich Gelegenheit bot, über die Sache selbst nicht allzuviel Worte zu verlieren. Ergebnis eines heiteren Worte- Ping-Pongs zwischen Hollmann und Burgtheaterdirektor Achim Benning: Ein zeitkritisches Stück über die Macht der Gewerkschaften hätte sogar eine gewisse Chance, gespielt zu werden, wenn es von Shakespeare geschrieben worden wäre. (So habe ich die Sache verstanden, aber sie war natürlich anders gemeint.),

Leopold Lindtberg ersetzt das Wort „Werktreue“ durch „Sachbezogen- heit“, bleibt aber ein einsamer Fels künstlerischer Disziplin im Meer der von ihren Anlässen emanzipierten Einfälle; er gebrauchte nach meiner Erinnerung als einziger Teilnehmer das äußerst anstößige Wort „Bescheidenheit“. Hüde Spiel sprach über die Leiden und Freuden des Übersetzers - sehr klug, sehr wissend. Marcel Prawy wies auf den Umstand hin, daß im Musiktheater die Inszenierung erst interessant geworden ist, als der

Nachschub an repertoirefähigen Werken aussetzte. Hans Weigel bekannte sich zu seinem Beruf, genauer: einem seiner Berufe, nämlich dem als professioneller Bearbeiter ungezählter Stücke, nicht zuletzt von Nestroy. Zumindest, was die Bearbeitung von Klassikern betrifft, vertrat da der Bearbeiter jener Stücke, die einer Bearbeitung bedürfen, die eigentliche Gegenposition gegenüber den Verhun- zern jener Stücke, die keines oder eines gekonnteren Eingriffes bedürfen.

So wird denn alles so bleiben, wie es ist, bis die Mode wieder einmal wechselt und das Theater sich in „Werktreue“ kleidet. Natürlich haben guch die Kritiker miteinander diskutiert, und es kam sogar zu einer veritablen Dramatur’genbeschimpfung durch einen von ihnen. Sie haben alle ihre Rollen sehr gut gespielt. Echte und totale Einigkeit bestand nur in einem Punkt: Wenn der Autor schon sein muß, soll er entweder noch leben, oder wenigstens 70 Jahre tot (oder Junggeselle gewesen) sein. Der ganze Haß der Branche gilt den in die Inszenierungen dreinredenden Dichterwitwen. Deren Verteufelung war so massiv, daß man versucht sein könnte, Argumente zu ihrer Ehrenrettung zu suchen. Aber vielleicht wäre es doch besser, die Tantiemenzahlung an die Erben ad infihi- tum zu verlängern (unsere diesbezügliche, nicht ganz neue Anregung veranlagte einen Intendanten zu einem Wutschrei), die Rechte der Erben dafür aber auch auf die finanziellen Belange zu beschränken. Denn, siehe oben: Gegen Verhunzer toter Autoren geht bald einer auf die Barrikaden.

Der lebende Autor hingegen möge, so die Theaterverlegerin Sommer, doch einsehen, daß mit dem Ausder- handgeben des Manuskriptes etwas ganz Neues beginne, sonst möge er Romane schreiben. Der Fall, daß ein Autoj; beim Schreiben eines Stückes von bestimmten szenischen Vorstellungen ausgeht, ist wohl nicht vorgesehen, und nach dem Abgang von Hartmut Lange konnte auch niemand daran erinnern, denn man war unter sich.

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