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An diesem Jahresbeginn kommt kein Politiker und kein politischer Kommentator an der Tragödie des Vietnamkrieges vorbei. Die Maßlosigkeit und Grausamkeit der amerikanischen Bombardierungen der Städte Hanoi und Haiphong in der zweiten Dezemberhälfte erschweren jeden Versuch einer objektiven Erklärung dieses Vorgehens, das den Charakter einer Terroraktion hatte. Wenn man in Amerika über die Heftigkeit des weltweiten Protestes überrascht ist, den diese weihnachtlichen Bombardierungen ausgelöst

haben, muß man daran erinnern, daß Ende Oktober auch nach der Meinung der amerikanischen Regierung das Ende dieses endlosen Krieges in greifbare Nähe gerückt schien. In Washington war die Richtigkeit des von Nordvietnam veröffentlichten Neunpunkteabkommens zwischen Kissinger und Le Duc-tho bestätigt worden. Warum es nach der Rückkehr Kissingers nach Wahsington nicht endgültig bereinigt, sondern die Wiederaufnahme der Feindseligkeiten beschlossen wurde, ist vom Weißen Haus auch den amerikanischen Parlamentariern und der Presse nicht erklärt worden. So daß auch im neugewählten Kongreß, der sich am 20. Jänner die „State-of-the-Union-Bot-schaft“ Nixons anhören wird, gegen die Geheimnistuerei als auch gegen die Fortsetzung des Krieges Protest laut wurde.

Dieser Krieg litt von Anfang an unter schwer erklärlichen Widersprüchen. Kennedy hatte bereits Truppen nach Südvietnam entsandt, als er zu seinem Berater Arthur Schlesinger sagte: „Der Krieg in Vietnam kann nur gewonnen werden, wenn es ihr Krieg bleibt. Wenn es der Krieg des weißen Mannes würde, würden wir ihn verlieren, wie ihn vor uns die Franzosen verloren haben.“ Neun Jahre später hat Präsident Nixon mit dem Rückzug des amerikanischen Expeditionsheeres und seinem Programm der „Vietnamisierung“ des Krieges faktisch dieser Ansicht beigepflichtet.

Eine New Yorker Zeitung veröffentlichte ein Interview eines in Vietnam vielfach ausgezeichneten amerikanischen Obersten, der sich aus Enttäuschung über die verfehlte Kriegsführung seines Landes nach Australien abgesetzt hat. Dieser Oberst, Hackworth mit Namen, erklärte: „Die Vietnamisierung war der Traum eines Werbeberaters.“ Er beschuldigte außerdem die US-Armee, sie habe gelogen, als sie sagte, sie könne den Krieg gewinnen, auch habe sie die Offiziere und Truppen für diesen Kampf unrichtig ausgebildet. Ein anderer hoher amerikanischer Offizier beanstandete seinerseits, daß die südvietnamesische Armee von den Amerikanern in ungeeigneter Art für den Partisanen- und Dschungelkrieg ausgerüstet und ausgebildet worden sei. Hinzufügen muß man, daß Amerika und die übrige Welt überrascht waren von der unbeugsamen Entschlossenheit und ungebrochenen Kampfkraft der Nordvietnamesen und des Vietcong. Auch die Verminung der nordvietnamesischen Häfen und die Bombardements aus der Luft werden kaum vermögen, ihren Widerstandswillen zu brechen. Ebenso sicher ist, daß die südvietnamesische Armee ohne die Unterstützung durch die Amerikaner den Kampf verlieren würde. Ungewollt hat Amerika durch sein Vorgehen in Südostasien den Kommunisten und Sozialisten in die Hände gearbeitet, indem diese Parteien im Pazifischen Raum den Widerstand gegen den amerikanischen Einfluß repräsentieren.

In Saigon wehrt sich Präsident Thieu beinahe verzweifelt gegen das von Kissinger mit Le Duc-tho ausgehandelte Abkommen. Wenn aber Thieu fordert, die nordvietnamesischen Truppen müßten das südvietnamesische Gebiet räumen, ehe er zu einem Waffenstillstand die Hand bieten könne, würde das voraussetzen, daß er und die Amerikaner den Krieg gewonnen hätten. Weil das nicht der Fall ist, konnte Kissinger von seinem nordvietnamesischen Verhandlungspartner nicht verlangen, daß Hanoi all seine Truppen aus Südvietnam zurückziehe. Ferner möchte Thieu — und darin scheint ihm Nixon folgen zu wollen —, daß in einem Abkommen die Souveränität beider Vietnamstaaten anerkannt werde. Aber das Abkommen vom Oktober weiß von drei Parteien: Von Nord- und Südvietnam und der provisorischen Revolutionsregierung in Südvietnam, die ja auch am Verhandlungstisch in Paris vertreten ist. Diese provisorische oder Vietcong-Regierung hält mehr als die Hälfte des südlichen Staatsgebietes — mit der Hilfe der Nordvietnamesen — in ihrer Hand. Deshalb spricht man von einem „Leopardenfell“, dem Südvietnam heute gleicht.

Weil der Sieg ausblieb, besteht dieser Zustand weiter. Das Beispiel Nord- und Südkoreas, auf das sich Thieu beruft, trifft nicht zu; im Unterschied zu diesem geteilten Land ist es ihm und seinen Verbündeten nicht gelungen, sich die unbeschränkte Herrschaft über Südvietnam zu sichern. Im Oktoberabkommen zwischen Washington und Hanoi — ich zitiere Punkt 1 — „respektieren die Vereinigten Staaten die Unbahängigkeit, die Souveränität, die Einheit und die territoriale Unverletzlichkeit von Vietnam“. Gemäß Artikel 4 soll die Bevölkerung Südvietnams In freien und demokratischen Wahlen unter internationaler Uber-wachung über ihre politische Zukunft befinden.

Wenn also auf der Grundlage des „Leopardenfells“ Wahlen sowohl in vom Vietcong und seinen nördlichen Helfern als auch In den von der Thieu-Administra-tion kontrollierten Gebieten stattfinden sollen, dürfte es den internationalen Überwachern schwerfallen, die Aufrichtigkeit solcher Wahlen zu garantieren. Diese würde voraussetzen, daß beiderseits gutwillig die Waffen gegen einen demokratischen Wahlkampf vertauscht würden: wohlverstanden in einem von einem jahrelangen Krieg verwüsteten, ausgebluteten, in Verwirrung geratenen Land, in dem weder das Regime Thieu noch seine Gegner den amerikanischen Auffassungen von Freiheit und Demokratie auch nur im entferntesten ähnlich sehen — und wo das Volk von Vietnam auf dergleichen nicht vorbereitet ist.

Die zornige Reaktion Nixons läßt sich vermutlich daraus erklären, daß es früher oder später zum Zusammenschluß ganz Vietnams unter einem nationalkommunistischen Regime kommen wird. Daß also der ganze, ungeheure Aufwand des Vietnam-Krieges vergeblich war. Amerika soll davor bewahrt werden, das Gesicht und seine Glaubwürdigkeit als Verbündeter zu verlieren, und dazu bedürfe es eines „ehrenhaften Friedens“. Washington hatte so sehr auf Thieu gesetzt, daß es Nixon schwer fallen dürfte, ihm seine Unterstützung zu entziehen — und wäre es auch erst ein halbes oder ganzes Jahr nach Abschluß des Waffenstillstandes. Aber mit Ausnahme der Kriegsschiffe und der Bomber gibt es in Südvietnam keine amerikanischen Kampfverbände mehr. Es ist nicht das geringste Paradoxon bei diesem schrecklichen Abenteuer, auf das sich Amerika vor zehn Jahren einließ, daß sein Präsident nicht versucht hat, einen Waffenstillstand herbeizuführen, als sich seine Truppen noch in Südvietnam befanden.

Aiiton Gälli, München, über die CSU im Labyrinth ihrer Rundfunkpolitik

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